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erfrischte sie mit neuer Kraft und durch unermüdliche Regsamkeit; erst die
nächsten Jahrzehnte werden erweisen, welches Verbrechen an Wien begangen
wurde, indem man diese Stadt, deren Sinn und Kultur gerade in der
Begegnung der heterogensten Elemente, in ihrer geistigen Übernationalität
bestand, gewalttätig zu nationalisieren und zu provinzialisieren suchte. Denn
das Genie Wiens – ein spezifisch musikalisches – war von je gewesen, daß es
alle volkhaften, alle sprachlichen Gegensätze in sich harmonisierte, seine
Kultur eine Synthese aller abendländischen Kulturen; wer dort lebte und
wirkte, fühlte sich frei von Enge und Vorurteil. Nirgends war es leichter,
Europäer zu sein, und ich weiß, daß ich es zum Teil dieser Stadt zu danken
habe, die schon zu Marc Aurels Zeiten den römischen, den universalen Geist
verteidigt, daß ich frühzeitig gelernt, die Idee der Gemeinschaft als die
höchste meines Herzens zu lieben.
Man lebte gut, man lebte leicht und unbesorgt in jenem alten Wien, und die
Deutschen im Norden sahen etwas ärgerlich und verächtlich auf uns Nachbarn
an der Donau herab, die, statt ›tüchtig‹ zu sein und straffe Ordnung zu halten,
sich genießerisch leben ließen, gut aßen, sich an Festen und Theatern freuten
und dazu vortreffliche Musik machten. Statt der deutschen ›Tüchtigkeit‹, die
schließlich allen andern Völkern die Existenz verbittert und verstört hat, statt
dieses gierigen Allen-andern-vorankommen-Wollens und Vorwärtsjagens
liebte man in Wien gemütlich zu plaudern, pflegte ein behagliches
Zusammensein und ließ in einer gutmütigen und vielleicht laxen Konzilianz
jedem ohne Mißgunst seinen Teil. ›Leben und leben lassen‹ war der berühmte
Wiener Grundsatz, ein Grundsatz, der mir noch heute humaner erscheint als
alle kategorischen Imperative, und er setzte sich unwiderstehlich in allen
Kreisen durch. Arm und reich, Tschechen und Deutsche, Juden und Christen
wohnten trotz gelegentlicher Hänseleien friedlich beisammen, und selbst die
politischen und sozialen Bewegungen entbehrten jener grauenhaften
Gehässigkeit, die erst als giftiger Rückstand vom ersten Weltkrieg in den
Blutkreislauf der Zeit eingedrungen ist. Man bekämpfte sich im alten
Österreich chevaleresk, man beschimpfte sich zwar in den Zeitungen, im
Parlament, aber dann saßen nach ihren ciceronianischen Tiraden dieselben
Abgeordneten freundschaftlich beisammen beim Bier oder Kaffee und duzten
einander; selbst als Lueger als Führer der antisemitischen Partei
Bürgermeister der Stadt wurde, änderte sich im privaten Verkehr nicht das
mindeste, und ich persönlich muß bekennen, weder in der Schule, noch auf
der Universität, noch in der Literatur jemals die geringste Hemmung oder
Mißachtung als Jude erfahren zu haben. Der Haß von Land zu Land, von Volk
zu Volk, von Tisch zu Tisch sprang einen noch nicht täglich aus der Zeitung
an, er sonderte nicht Menschen von Menschen und Nationen von Nationen;
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Titel
- Die Welt von Gestern
- Untertitel
- Erinnerungen eines Europäers
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1942
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 320
- Schlagwörter
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286