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›Wissenschaft des nicht Wissenswerten‹ in genau abgeteilten Portionen sich
einzuverleiben hatte, scholastische oder scholastisch gemachte Materien, von
denen wir fühlten, daß sie auf das reale und auf unser persönliches Interesse
keinerlei Bezug haben konnten. Es war ein stumpfes, ödes Lernen nicht um
des Lebens willen, sondern um des Lernens willen, das uns die alte Pädagogik
aufzwang. Und der einzige wirklich beschwingte Glücksmoment, den ich der
Schule zu danken habe, wurde der Tag, da ich ihre Tür für immer hinter mir
zuschlug.
Nicht daß unsere österreichischen Schulen an sich schlecht gewesen wären.
Im Gegenteil, der sogenannte ›Lehrplan‹ war nach hundertjähriger Erfahrung
sorgsam ausgearbeitet und hätte, wenn anregend übermittelt, eine fruchtbare
und ziemlich universale Bildung fundieren können. Aber eben durch die
akkurate Planhaftigkeit und ihre trockene Schematisierung wurden unsere
Schulstunden grauenhaft dürr und unlebendig, ein kalter Lernapparat, der sich
nie an dem Individuum regulierte und nur wie ein Automat mit Ziffern ›gut,
genügend, ungenügend‹ aufzeigte, wie weit man den ›Anforderungen‹ des
Lehrplans entsprochen hatte. Gerade aber diese menschliche Lieblosigkeit,
diese nüchterne Unpersönlichkeit und das Kasernenhafte des Umgangs war
es, was uns unbewußt erbitterte. Wir hatten unser Pensum zu lernen und
wurden geprüft, was wir gelernt hatten; kein Lehrer fragte ein einziges Mal in
acht Jahren, was wir persönlich zu lernen begehrten, und just jener fördernde
Aufschwung, nach dem jeder junge Mensch sich doch heimlich sehnt, blieb
vollkommen aus.
Diese Nüchternheit sprach sich schon äußerlich in unserem Schulgebäude
aus, einem typischen Zweckbau, vor fünfzig Jahren eilig, billig und
gedankenlos hingepflastert. Mit ihren kalten, schlecht gekalkten Wänden,
niederen Klassenräumen ohne Bild oder sonst augenerfreuenden Schmuck,
ihren das ganze Haus durchduftenden Anstandsorten, hatte diese Lernkaserne
etwas von einem alten Hotelmöbel, das schon Unzählige vor einem benutzt
hatten und Unzählige ebenso gleichgültig oder widerwillig benutzen würden;
noch heute kann ich jenen muffigen, modrigen Geruch nicht vergessen, der
diesem Haus wie allen österreichischen Amtsbüros anhaftete, und den man
bei uns den ›ärarischen‹ Geruch nannte, diesen Geruch von überheizten,
überfüllten, nie recht gelüfteten Zimmern, der sich einem zuerst an die
Kleider und dann an die Seele hängte. Man saß paarweise wie die Sträflinge
in ihrer Galeere auf niederen Holzbänken, die einem das Rückgrat krümmten,
und saß, bis einem die Knochen schmerzten; im Winter flackerte das
bläuliche Licht offener Gasflammen über unseren Büchern, im Sommer
dagegen wurden sorglich die Fenster verhängt, damit sich der Blick nicht
etwa träumerisch an dem kleinen Quadrat blauen Himmels erfreuen könnte.
Noch hatte jenes Jahrhundert nicht entdeckt, daß unausgeformte junge Körper
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Titel
- Die Welt von Gestern
- Untertitel
- Erinnerungen eines Europäers
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1942
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 320
- Schlagwörter
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286