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Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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bartlosen, unausgewachsenen Burschen, die tagsüber noch auf der Schulbank hocken mußten, bildeten wirklich das ideale Publikum, das sich ein junger Dichter erträumen konnte, neugierig, kritisch verständig und begeistert sich zu begeistern. Denn unsere Fähigkeit zum Enthusiasmus war grenzenlos; während unserer Schulstunden, auf dem Weg nach und von der Schule, im Kaffeehaus, im Theater, auf den Spaziergängen haben wir halbwüchsigen Jungen Jahre nichts getan als Bücher, Bilder, Musik, Philosophie zu diskutieren; wer immer öffentlich wirkte, ob als Schauspieler oder Dirigent, wer ein Buch veröffentlicht hatte oder in einer Zeitung schrieb, stand als Stern in unserem Firmament. Ich erschrak beinahe, als ich Jahre später bei Balzac in der Schilderung seiner Jugend den Satz fand: ›Les gens célèbres étaient pour moi comme des dieux qui ne parlaient pas, ne marchaient pas, ne mangeaient pas commes les autres hommes.‹ Denn genauso haben wir empfunden. Gustav Mahler auf der Straße gesehen zu haben, war ein Ereignis, das man stolz wie einen persönlichen Triumph am nächsten Morgen den Kameraden berichtete, und als ich einmal als Knabe Johannes Brahms vorgestellt wurde und er mir freundlich auf die Schulter klopfte, war ich einige Tage ganz wirr über das ungeheure Begebnis. Ich wußte zwar mit meinen zwölf Jahren nur sehr ungenau, was Brahms geleistet hatte, aber schon die bloße Tatsache seines Ruhms, die Aura des Schöpferischen übte erschütternde Gewalt. Eine Premiere von Gerhart Hauptmann im Burgtheater irritierte viele Wochen, bevor die Proben begannen, unsere ganze Klasse; wir schlichen uns an Schauspieler und kleine Statisten heran, um zuerst – vor den andern! – den Gang der Handlung und die Besetzung zu erfahren; wir ließen uns (ich scheue mich nicht, auch unsere Absurditäten zu berichten) die Haare bei dem Burgtheaterfriseur schneiden, nur um eine geheime Nachricht zu ergattern über die Wolter oder Sonnenthal, und ein Schüler aus einer niederen Klasse wurde von uns Älteren besonders verwöhnt und mit allerlei Aufmerksamkeiten bestochen, nur weil er der Neffe eines Beleuchtungsinspektors der Oper war und wir durch ihn manchmal zu den Proben heimlich auf die Bühne geschmuggelt wurden – diese Bühne, die zu betreten den Schauer Dantes übertraf, als er aufstieg in die heiligen Kreise des Paradieses. So stark war für uns die strahlende Kraft des Ruhms, daß er, selbst wenn durch siebenfaches Medium gebrochen, uns noch Ehrfurcht abzwang; ein armes, altes Weibchen erschien uns, weil eine Großnichte Franz Schuberts, wie ein überweltliches Wesen, und selbst dem Kammerdiener von Joseph Kainz sahen wir respektvoll auf der Straße nach, weil er das Glück hatte, diesem geliebtesten und genialsten Schauspieler persönlich nahe sein zu dürfen. Ich weiß natürlich heute genau, wieviel Absurdität in diesem wahllosen 38
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Die Welt von Gestern Erinnerungen eines Europäers
Titel
Die Welt von Gestern
Untertitel
Erinnerungen eines Europäers
Autor
Stefan Zweig
Datum
1942
Sprache
deutsch
Lizenz
PD
Abmessungen
21.0 x 29.7 cm
Seiten
320
Schlagwörter
Biographie, Litertaur, Schriftsteller
Kategorie
Biographien

Inhaltsverzeichnis

  1. Vorwort 5
  2. Die Welt der Sicherheit 10
  3. Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
  4. Eros Matutinus 56
  5. Universitas vitae 74
  6. Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
  7. Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
  8. Über Europa hinaus 135
  9. Glanz und Schatten über Europa 145
  10. Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
  11. Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
  12. Im Herzen Europas 189
  13. Heimkehr nach Österreich 208
  14. Wieder in der Welt 224
  15. Sonnenuntergang 240
  16. Incipit Hitler 263
  17. Die Agonie des Friedens 286
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