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Enthusiasmus steckte, wieviel bloß gegenseitige Nachäfferei, wieviel bloß
sportliche Lust, sich zu übertrumpfen, wieviel kindische Eitelkeit, sich durch
Beschäftigung mit der Kunst über die banausische Umwelt der Verwandten
und Lehrer hochmütig erhaben zu fühlen. Aber noch heute bin ich erstaunt,
wieviel wir jungen Burschen durch diese Überspannung der literarischen
Leidenschaft damals gewußt haben, wie frühzeitig wir uns kritische
Unterscheidungsfähigkeit durch dies ununterbrochene Diskutieren und
Zerfasern angeeignet haben. Ich kannte mit siebzehn Jahren nicht nur jedes
Gedicht Baudelaires oder Walt Whitmans, sondern wußte die wesentlichen
auswendig und glaube, in meinem ganzen späteren Leben nicht mehr so
intensiv gelesen zu haben wie in diesen Schul- und Universitätsjahren. Namen
waren uns selbstverständlich geläufig, die in der Allgemeinheit erst ein
Jahrzehnt später gewürdigt wurden, selbst das Ephemerste blieb, weil mit
solchem Eifer ergriffen, im Gedächtnis. Einmal erzählte ich meinem
verehrten Freunde Paul Valéry, wie alt eigentlich meine literarische
Bekanntschaft mit ihm sei; ich hätte vor dreißig Jahren schon Verse von ihm
gelesen und geliebt. Valéry lachte mir gutmütig zu: »Schwindeln Sie nicht,
lieber Freund! Meine Gedichte sind doch erst 1916 erschienen.« Aber dann
staunte er, als ich ihm haargenau in Farbe und Format die kleine literarische
Zeitschrift beschrieb, in der wir 1898 in Wien seine ersten Verse gefunden.
»Aber die hat doch kaum jemand in Paris gekannt«, sagte er verwundert, »wie
konnten Sie sich die denn in Wien beschafft haben?« »Genauso, wie Sie sich
als Gymnasiast in Ihrer Provinzstadt die Gedichte Mallarmés, die die
offizielle Literatur ebensowenig kannte«, konnte ich ihm antworten. Und er
stimmte mir zu: »Junge Leute entdecken sich ihre Dichter, weil sie sich sie
entdecken wollen.« Wir witterten in der Tat den Wind, noch ehe er über die
Grenze kam, weil wir unablässig mit gespannten Nüstern lebten. Wir fanden
das Neue, weil wir das Neue wollten, weil wir hungerten nach etwas, das uns
und nur uns gehörte, – nicht der Welt unserer Väter, unserer Umwelt. Jugend
besitzt wie gewisse Tiere einen ausgezeichneten Instinkt für
Witterungsumschläge, und so spürte unsere Generation, ehe es unsere Lehrer
und die Universitäten wußten, daß mit dem alten Jahrhundert auch in den
Kunstanschauungen etwas zu Ende ging, daß eine Revolution oder zumindest
eine Umstellung der Werte im Anbeginn war. Die guten, soliden Meister aus
der Zeit unserer Väter – Gottfried Keller in der Literatur, Ibsen in der
Dramatik, Johannes Brahms in der Musik, Leibl in der Malerei, Eduard von
Hartmann in der Philosophie – hatten für unser Gefühl die ganze
Bedächtigkeit der Welt der Sicherheit in sich; trotz ihrer technischen, ihrer
geistigen Meisterschaft interessierten sie uns nicht mehr. Instinktiv fühlten
wir, daß ihr kühler, wohltemperierter Rhythmus fremd war dem unseres
unruhigen Bluts und auch schon nicht mehr im Einklang mit dem
beschleunigten Tempo der Zeit. Nun lebte gerade in Wien der wachsamste
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Titel
- Die Welt von Gestern
- Untertitel
- Erinnerungen eines Europäers
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1942
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 320
- Schlagwörter
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286