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mit leichter Hand hinstreute. Wer ist ›Loris‹, wer dieser Unbekannte?, fragte
er sich. Ein alter Mann gewiß, der in Jahren und Jahren seine Erkenntnisse
schweigsam gekeltert hat und in geheimnisvoller Klausur die sublimsten
Essenzen der Sprache zu einer fast wollüstigen Magie kultiviert. Und solch
ein Weiser, solch ein begnadeter Dichter lebte in derselben Stadt, und er hatte
nie von ihm gehört! Bahr schrieb sofort dem Unbekannten und verabredete
eine Besprechung in einem Kaffeehaus – dem berühmten Café Griensteidl,
dem Hauptquartier der jungen Literatur. Plötzlich kam mit leichten, raschen
Schritten ein schlanker, noch unbärtiger Gymnasiast mit kurzen Knabenhosen
an seinen Tisch, verbeugte sich und sagte mit einer hohen, noch nicht ganz
mutierten Stimme knapp und entschieden: ›Hofmannsthal! Ich bin Loris.‹
Nach Jahren noch, wenn Bahr von seiner Verblüffung erzählt, überkam ihn
die Erregung. Er wollte es zuerst nicht glauben. Ein Gymnasiast, dem solche
Kunst, solche Weitsicht, solche Tiefsicht, solche stupende Kenntnis
des Lebens vordem Leben zu eigen war! Und beinah das gleiche berichtete
mir Arthur Schnitzler. Er war damals noch Arzt, da seine ersten literarischen
Erfolge noch keineswegs Sicherung der Lebensexistenz zu verbürgen
schienen; aber er galt schon als Haupt des ›jungen Wien‹, und die noch
Jüngeren wandten sich gern an ihn um Rat und Urteil. Bei zufälligen
Bekannten hatte er den hochaufgeschossenen jungen Gymnasiasten
kennengelernt, der ihm durch seine behende Klugheit auffiel, und als dieser
Gymnasiast die Gunst erbat, ihm ein kleines Theaterstück in Versen vorlesen
zu dürfen, lud er ihn gerne in seine Junggesellenwohnung, freilich ohne große
Erwartung – nun eben ein Gymnasiastenstück, sentimentalisch oder
pseudoklassisch, dachte er. Er bestellte einige Freunde; Hofmannsthal
erschien in seinen kurzen Knabenhosen, etwas nervös und befangen, und
begann zu lesen. »Nach einigen Minuten«, erzählte mir Schnitzler, »horchten
wir plötzlich scharf auf und tauschten verwunderte, beinahe erschrockene
Blicke. Verse solcher Vollendung, solcher fehlloser Plastik, solcher
musikalischer Durchfühltheit, hatten wir von keinem Lebenden je gehört, ja
seit Goethe kaum für möglich gehalten. Aber noch wunderbarer als diese
einmalige (und seitdem von niemandem in deutscher Sprache mehr erreichte)
Meisterschaft der Form war die Weltkenntnis, die nur aus magischer Intuition
kommen konnte, bei einem Knaben, der tagsüber auf der Schulbank saß.« Als
Hofmannsthal endete, blieben alle stumm. »Ich hatte«, sagte mir Schnitzler,
»das Gefühl, zum erstenmal im Leben einem geborenen Genie begegnet zu
sein, und ich habe es in meinem ganzen Leben nie mehr so überwältigend
empfunden.« Wer so mit sechzehn begann – oder vielmehr nicht begann,
sondern schon vollendet war im Beginnen –, mußte ein Bruder Goethes und
Shakespeares werden. Und wirklich, die Vollendung schien sich immer mehr
zu vollenden: nach diesem ersten Versstück ›Gestern‹ kam das grandiose
Fragment des ›Tod des Tizian‹, in dem die deutsche Sprache sich zu
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Titel
- Die Welt von Gestern
- Untertitel
- Erinnerungen eines Europäers
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1942
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 320
- Schlagwörter
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286