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Rollen ganze Szenen aus den Klassikern, für die wir andern ein neugieriges,
aber streng kritisches Publikum bildeten. Zwei oder drei waren ausgezeichnet
ausgebildete Musiker, hatten sich aber noch nicht entschlossen, ob sie
Komponisten, Virtuosen oder Dirigenten werden wollten; ihnen danke ich die
erste Kenntnis der neuen Musik, die in den offiziellen Konzerten der
Philharmoniker noch streng verfemt war – während sie sich wiederum von
uns die Texte für ihre Lieder und Chöre holten. Ein anderer, der Sohn eines
damals berühmten Gesellschaftsmalers, zeichnete während der Stunden uns
die Schulhefte voll und porträtierte all die zukünftigen Genies der Klasse.
Aber weitaus am stärksten war die literarische Bemühung. Durch die
gegenseitige Anstachelung zu immer rascherer Vollendung und die
wechselseitig geübte Kritik an jedem einzelnen Gedicht war das Niveau, da
wir mit siebzehn Jahren erreichten, weit über das Dilettantische hinaus und
näherte sich bei einzelnen wirklich gültiger Leistung, was sich schon dadurch
bewies, daß unsere Produktionen nicht etwa nur von obskuren
Provinzblättchen, sondern von führenden Revuen der neuen Generation
angenommen, gedruckt und – dies der überzeugendste Beweis – sogar
honoriert wurden. Einer meiner Kameraden, Ph. A., den ich wie einen Genius
vergötterte, glänzte an erster Stelle im ›Pan‹, der großartigen Luxuszeitschrift,
neben Dehmel und Rilke, ein anderer, A. M., hatte unter dem Pseudonym
›August Oehler‹ Eingang gefunden in die unzugänglichste, eklektischste aller
deutschen Revuen, in die ›Blätter für die Kunst‹, die Stefan George
ausschließlich seinem geheiligten siebenmal gesiebten Kreise vorbehielt. Ein
dritter schrieb, von Hofmannsthal ermutigt, ein Napoleondrama, ein vierter
eine neue ästhetische Theorie und bedeutsame Sonette; ich selbst hatte in der
›Gesellschaft‹, dem führenden Blatt der Moderne, und in Maximilian Hardens
›Zukunft‹, dieser für die politische und kulturelle Geschichte des neuen
Deutschlands entscheidenden Wochenschrift, Eingang gefunden. Sehe ich
heute zurück, so muß ich ganz objektiv bekennen, daß die Summe unseres
Wissens, die Verfeinerung unserer literarischen Technik, das künstlerische
Niveau für Siebzehnjährige ein wirklich erstaunliches war und nur erklärlich
durch das anfeuernde Beispiel jener phantastischen Frühreife Hofmannsthals,
das uns, um nur halbwegs voreinander zu bestehen, eine leidenschaftliche
Anspannung zum Äußersten abzwang. Wir beherrschten alle Kunstgriffe und
Extravaganzen und Kühnheiten der Sprache, wir hatten die Technik jeder
Versform, alle Stile im Pindarischen Pathos bis zur simplen Diktion des
Volkslieds in unzähligen Versuchen durchgeprobt, wir zeigten im täglichen
Tausch unserer Produktionen uns gegenseitig die flüchtigsten
Unstimmigkeiten und diskutierten jede metrische Einzelheit. Während unsere
braven Lehrer noch ahnungslos unsere Schulaufsätze mit roter Tinte auf
fehlende Beistriche anzeichneten, übten wir einander Kritik mit einer Strenge,
einer Kunstkenntnis und Akribie wie keiner der offiziellen Literaturpäpste
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Titel
- Die Welt von Gestern
- Untertitel
- Erinnerungen eines Europäers
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1942
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 320
- Schlagwörter
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286