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an diesem Schreckenstage, der Wien in Flammen sehen konnte, die Straße zu
betreten. Aber nichts geschah. Die Arbeiter marschierten mit ihren Frauen
und Kindern in geschlossenen Viererreihen und mit vorbildlicher Disziplin in
den Prater, jeder die rote Nelke, das Parteizeichen, im Knopfloch. Sie sangen
im Marschieren die Internationale, aber die Kinder fielen dann im schönen
Grün der zum erstenmal betretenen ›Nobelallee‹ in ihre sorglosen Schullieder.
Es wurde niemand beschimpft, niemand geschlagen, keine Fäuste geballt;
kameradschaftlich lachten die Polizisten, die Soldaten ihnen zu. Dank dieser
tadellosen Haltung war es dem Bürgertum dann nicht mehr lange möglich, die
Arbeiterschaft als eine ›revolutionäre Rotte‹ zu brandmarken, es kam – wie
immer im alten und weisen Österreich – zu gegenseitigen Konzessionen; noch
war das heutige System der Niederknüppelung und Ausrottung nicht
erfunden, noch das (freilich schon verblassende) Ideal der Humanität selbst
bei den Parteiführern lebendig.
Kaum tauchte die rote Nelke als Parteizeichen auf, so erschien plötzlich
eine andere Blume im Knopfloch, die weiße Nelke, das
Zugehörigkeitszeichen der christlich-sozialen Partei (ist es nicht rührend, daß
man damals noch Blumen als Parteizeichen wählte statt
Stulpenstiefeln, Dolchen und Totenköpfen?). Die christlich-soziale als
durchaus kleinbürgerliche Partei war eigentlich nur die organische
Gegenbewegung der proletarischen und im Grunde ebenso wie sie ein
Produkt des Sieges der Maschine über die Hand. Denn, indem die Maschine
durch die Zusammenfassung großer Massen in den Fabriken den Arbeitern
Macht und sozialen Aufstieg zuteilte, bedrohte sie gleichzeitig das kleine
Handwerk. Die großen Warenhäuser, die Massenproduktionen wurden für den
Mittelstand und für die kleinen Meister mit ihren Handbetrieben zum Ruin.
Dieser Unzufriedenheit und Sorge bemächtigte sich ein geschickter und
populärer Führer, Dr. Karl Lueger, und riß mit dem Schlagwort: »Dem
kleinen Manne muß geholfen werden« das ganze Kleinbürgertum und den
verärgerten Mittelstand mit sich, dessen Neid gegen die Wohlhabenden
bedeutend geringer war als die Furcht, aus seiner Bürgerlichkeit in das
Proletariat abzusinken. Es war genau die gleiche verängstigte Schicht, wie sie
später Adolf Hitler als erste breite Masse um sich gesammelt hat, und Karl
Lueger ist auch in einem anderen Sinne sein Vorbild gewesen, indem er ihn
die Handlichkeit der antisemitischen Parole lehrte, die den unzufriedenen
Kleinbürgerkreisen einen Gegner optisch zeigte und anderseits zugleich den
Haß von den Großgrundbesitzern und dem feudalen Reichtum unmerklich
ablenkte. Aber die ganze Vulgarisierung und Brutalisierung der heutigen
Politik, der grauenhafte Rückfall unseres Jahrhunderts zeigt sich gerade im
Vergleich der beiden Gestalten. Karl Lueger, mit seinem weichen, blonden
Vollbart eine imposante Erscheinung – der ›schöne Karl‹ im Wiener
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Titel
- Die Welt von Gestern
- Untertitel
- Erinnerungen eines Europäers
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1942
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 320
- Schlagwörter
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286