Seite - 60 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
Bild der Seite - 60 -
Text der Seite - 60 -
Lockenwicklern gekräuselt, gelegt, gebürstet, gestrichen, getürmt werden, ehe
man sie mit den Zwiebelschalen von Unterröcken, Kamisolen, Jacken und
Jäckchen so lange umbaute und gewandete, bis der letzte Rest ihrer fraulichen
und persönlichen Formen völlig verschwunden war. Aber dieser Unsinn hatte
seinen geheimen Sinn. Die Körperlinie einer Frau sollte durch diese
Manipulationen so völlig verheimlicht werden, daß selbst der Bräutigam beim
Hochzeitsmahl nicht im entferntesten ahnen konnte, ob seine zukünftige
Lebensgefährtin gerade oder krumm gewachsen war, füllig oder mager,
kurzbeinig oder langbeinig; diese ›moralische‹ Zeit betrachtete es auch
keineswegs als unerlaubt, zum Zwecke der Täuschung und zur Anpassung an
das allgemeine Schönheitsideal künstliche Verstärkungen des Haars, des
Busens oder anderer Körperteile vorzunehmen. Je mehr eine Frau als ›Dame‹
wirken sollte, um so weniger durften ihre natürlichen Formen erkennbar sein;
im Grunde diente die Mode mit diesem ihrem absichtlichen Leitsatz doch nur
gehorsam der allgemeinen Moraltendenz der Zeit, deren Hauptsorge das
Verdecken und Verstecken war.
Aber diese weise Moral vergaß völlig, daß, wenn man dem Teufel die Tür
versperrt, er sich meist durch den Rauchfang oder eine Hintertür Einlaß
erzwingt. Was unserem unbefangenen Blick heutigen Tages an diesen
Trachten auffällt, die verzweifelt jede Spur nackter Haut und ehrlichen
Wuchses verdecken wollten, ist keineswegs ihre Sittlichkeit, sondern im
Gegenteil, wie bis zur Peinlichkeit provokatorisch jene Mode die Polarität der
Geschlechter herausarbeitete. Während der junge Mann und die junge Frau
unserer Zeit, beide hochgewachsen und schlank, beide bartlos und kurzen
Haars, schon an ihrer äußeren Erscheinung sich kameradschaftlich einander
anpassen, distanzierten sich in jener Epoche die Geschlechter, so sehr sie es
nur vermochten. Die Männer trugen lange Bärte zur Schau oder zwirbelten
zum mindesten einen mächtigen Schnurrbart als weithin erkennbares Attribut
ihrer Männlichkeit empor, während bei der Frau das Korsett das wesentlich
weibliche Geschlechtsmerkmal des Busens ostentativ sichtbar machte.
Überbetont war das sogenannte starke Geschlecht gegenüber dem schwachen
Geschlecht auch in der Haltung, die man von ihm verlangte, der Mann forsch,
ritterlich und aggressiv, die Frau scheu, schüchtern und defensiv, Jäger und
Beute, statt gleich und gleich. Durch diese unnatürliche Auseinanderspannung
im äußeren Habitus mußte auch die innere Spannung zwischen den Polen, die
Erotik, sich verstärken, und so erreichte dank ihrer unpsychologischen
Methode des Verhüllens und Verschweigens die Gesellschaft von damals
genau das Gegenteil. Denn da sie in ihrer unablässigen Angst und Prüderie
dem Unsittlichen in allen Formen des Lebens, Literatur, Kunst, Kleidung
ständig nachspürte, um jede Anreizung zu verhüten, war sie eigentlich
gezwungen, unablässig an das Unsittliche zu denken. Da sie ununterbrochen
60
Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Titel
- Die Welt von Gestern
- Untertitel
- Erinnerungen eines Europäers
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1942
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 320
- Schlagwörter
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286