Seite - 61 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
Bild der Seite - 61 -
Text der Seite - 61 -
forschte, was unpassend sein könnte, befand sie sich in einem unablässigen
Zustand des Aufpassens; immer schien der damaligen Welt der ›Anstand‹ in
tödlicher Gefahr: bei jeder Geste, bei jedem Wort. Vielleicht wird man heute
noch verstehen, daß es in jener Zeit als Verbrechen gegolten, wenn eine Frau
bei Sport oder Spiel eine Hose angelegt hätte. Aber wie die hysterische
Prüderie begreiflich machen, daß eine Dame das Wort ›Hose‹ damals
überhaupt nicht über die Lippen bringen durfte? Sie mußte, wenn sie schon
der Existenz eines so sinnengefährlichen Objekts wie einer Männerhose
überhaupt Erwähnung tat, dafür das unschuldige ›Beinkleid‹ oder die eigens
erfundene ausweichende Bezeichnung ›Die Unaussprechlichen‹ wählen. Daß
etwa ein paar junge Leute gleichen Standes, aber verschiedenen Geschlechtes,
unbewacht einen Ausflug hätten unternehmen dürfen, war völlig undenkbar –
oder vielmehr, der erste Gedanke war, es könnte dabei etwas ›passieren‹. Ein
solches Zusammensein wurde höchstens zulässig, wenn irgendwelche
Aufsichtspersonen, Mütter oder Gouvernanten, die jungen Leute Schritt für
Schritt begleiteten. Daß junge Mädchen auch im heißesten Sommer Tennis in
fußfreien Kleidern oder gar mit nackten Armen spielten, hätte als skandalös
gegolten, und wenn eine wohlgesittete Frau in Gesellschaft die Füße
überschlug, empfand die ›Sitte‹ dies als grauenhaft anstößig, weil dadurch
ihre Knöchel unter dem Kleidersaum hätten entblößt werden können. Selbst
den Elementen der Natur, selbst Sonne, Wasser und Luft, war es nicht
gegönnt, die nackte Haut einer Frau zu berühren. Im freien Meer quälten sie
sich mühsam vorwärts in schweren Kostümen, bekleidet vom Hals bis zur
Ferse, in den Pensionaten und Klöstern mußten die jungen Mädchen, um zu
vergessen, daß sie einen Körper besaßen, sogar ihr häusliches Bad in langen,
weißen Hemden nehmen. Es ist durchaus keine Legende oder Übertreibung,
daß Frauen als alte Damen starben, von deren Körper außer dem
Geburtshelfer, dem Gatten und Leichenwäscher niemand auch nur die
Schulterlinie oder das Knie gesehen. All das erscheint heute nach vierzig
Jahren als Märchen oder humoristische Übertreibung. Aber diese Angst vor
allem Körperlichen und Natürlichen war tatsächlich von den obersten Ständen
bis tief in das ganze Volk mit der Vehemenz einer wirklichen Neurose
eingedrungen. Denn kann man es sich heute noch vorstellen, daß um die
Jahrhundertwende, als die ersten Frauen sich auf das Fahrrad oder gar beim
Reiten in den Herrensitz wagten, die Bauern mit Steinen auf die Verwegenen
warfen? Daß in einer Zeit, da ich noch zur Schule ging, die Wiener Zeitungen
spaltenlange Diskussionen führten über die vorgeschlagene, grauenhaft
unsittliche Neuerung, die Ballerinen der Hofoper sollten ohne Trikotstrümpfe
tanzen? Daß es eine Sensation ohnegleichen wurde, als Isidora Duncan in
ihren doch höchst klassischen Tänzen zum erstenmal unter der weißen,
glücklicherweise tief hinabwallenden Tunika statt der üblichen
Seidenschühchen ihre nackten Sohlen zeigte? Und nun denke man sich junge
61
Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Titel
- Die Welt von Gestern
- Untertitel
- Erinnerungen eines Europäers
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1942
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 320
- Schlagwörter
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286