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Menschen, die in einer solchen Zeit wachen Blicks heranwuchsen, und wie
lächerlich ihnen diese Ängste um den ewig bedrohten Anstand erscheinen
mußten, sobald sie einmal erkannt hatten, daß das sittliche Mäntelchen, das
man geheimnisvoll um diese Dinge hängen wollte, doch höchst fadenscheinig
und voller Risse und Löcher war. Schließlich ließ es sich doch nicht
vermeiden, daß einer von den fünfzig Gymnasiasten seinen Professor in einer
jener dunklen Gassen traf, oder man im Familienkreise erlauschte, dieser oder
jener, der vor uns besonders hochachtbar tat, habe verschiedene Sündenfälle
auf dem Kerbholz. In Wirklichkeit steigerte und verschwülte nichts unsere
Neugier dermaßen wie jene ungeschickte Technik des Verbergens; und da
man dem Natürlichen nicht frei und offen seinen Lauf lassen wollte, schuf
sich die Neugier in einer Großstadt ihre unterirdischen und meist nicht sehr
sauberen Abflüsse. In allen Ständen spürte man durch diese Unterdrückung
bei der Jugend eine unterirdische Überreizung, die sich in kindischer und
hilfloser Art auswirkte. Kaum fand sich ein Zaun oder ein verschwiegenes
Gelaß, das nicht mit unanständigen Worten und Zeichnungen beschmiert war,
kaum ein Schwimmbad, in dem die Holzwände zum Damenbad nicht von
sogenannten Astlochguckern durchbohrt waren. Ganze Industrien, die heute
durch die Vernatürlichung der Sitten längst zugrunde gegangen sind, standen
in heimlicher Blüte, vor allem die jener Akt- und Nacktphotographien, die in
jedem Wirtshaus Hausierer unter dem Tisch den halbwüchsigen Burschen
anboten. Oder die der pornographischen Literatur ›sous le manteau‹ – da die
ernste Literatur zwangsweise idealistisch und vorsichtig sein mußte – Bücher
allerschlimmster Sorte, auf schlechtem Papier gedruckt, in schlechter Sprache
geschrieben und doch reißenden Absatz findend, sowie Zeitschriften ›pikanter
Art‹, wie sie ähnlich widerlich und lüstern heute nicht mehr zu finden sind.
Neben dem Hoftheater, das dem Zeitideal mit all seinem Edelsinn und seiner
schneeweißen Reinheit zu dienen hatte, gab es Theater und Kabaretts, die
ausschließlich der ordinärsten Zote dienten; überall schuf sich das Gehemmte
Abwege, Umwege und Auswege. So war im letzten Grund jene Generation,
der man jede Aufklärung und jedes unbefangene Beisammensein mit dem
anderen Geschlecht prüde untersagte, tausendmal erotischer disponiert als die
Jugend von heute mit ihrer höheren Liebesfreiheit. Denn nur das Versagte
beschäftigt das Gelüst, nur das Verbotene irritiert das Verlangen, und je
weniger die Augen zu sehen, die Ohren zu hören bekamen, um so mehr
träumten die Gedanken. Je weniger Luft, Licht und Sonne man an den Körper
heranließ, um so mehr verschwülten sich die Sinne. In summa hat
jener gesellschaftliche Druck auf unsere Jugend statt einer höheren
Sittlichkeit nur Mißtrauen und Erbitterung in uns gegen alle diese Instanzen
gezeitigt. Vom ersten Tag unseres Erwachens fühlten wir instinktiv, daß mit
ihrem Verschweigen und Verdecken diese unehrliche Moral uns etwas
nehmen wollte, was rechtens unserem Alter zugehörte und daß sie unseren
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Titel
- Die Welt von Gestern
- Untertitel
- Erinnerungen eines Europäers
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1942
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 320
- Schlagwörter
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286