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Willen zur Ehrlichkeit aufopferte einer längst unwahr gewordenen
Konvention.
Diese ›gesellschaftliche Moral‹, die einerseits das Vorhandensein der
Sexualität und ihren natürlichen Ablauf privatim voraussetzte, anderseits
öffentlich um keinen Preis anerkennen wollte, war aber sogar doppelt
verlogen. Denn während sie bei jungen Männern ein Auge zukniff und sie mit
dem andern sogar zwinkernd ermutigte, ›sich die Hörner abzulaufen‹, wie
man in dem gutmütig spottenden Familienjargon jener Zeit sagte, schloß sie
gegenüber der Frau ängstlich beide Augen und stellte sich blind. Daß ein
Mann Triebe empfinde und empfinden dürfe, mußte sogar die Konvention
stillschweigend zugeben. Daß aber eine Frau gleichfalls ihnen unterworfen
sein könne, daß die Schöpfung zu ihren ewigen Zwecken auch einer
weiblichen Polarität bedürfe, dies ehrlich zuzugeben, hätte gegen den Begriff
der ›Heiligkeit der Frau‹ verstoßen. Es wurde also in der vorfreudianischen
Zeit die Vereinbarung als Axiom durchgesetzt, daß ein weibliches Wesen
keinerlei körperliches Verlangen habe, solange es nicht vom Manne geweckt
werde, was aber selbstverständlich offiziell nur in der Ehe erlaubt war. Da
aber die Luft – besonders in Wien – auch in jenen moralischen Zeiten voll
gefährlicher erotischer Infektionsstoffe war, mußte ein Mädchen aus gutem
Hause von der Geburt bis zu dem Tage, da es mit seinem Gatten den Traualtar
verließ, in einer völlig sterilisierten Atmosphäre leben. Um die jungen
Mädchen zu schützen, ließ man sie nicht einen Augenblick allein. Sie
bekamen eine Gouvernante, die dafür zu sorgen hatte, daß sie gottbewahre
nicht einen Schritt unbehütet vor die Haustür traten, sie wurden zur Schule,
zur Tanzstunde, zur Musikstunde gebracht und ebenso abgeholt. Jedes Buch,
das sie lasen, wurde kontrolliert, und vor allem wurden die jungen Mädchen
unablässig beschäftigt, um sie von möglichen gefährlichen Gedanken
abzulenken. Sie mußten Klavier üben und Singen und Zeichnen und fremde
Sprachen und Kunstgeschichte und Literaturgeschichte lernen, man bildete
und überbildete sie. Aber während man versuchte, sie so gebildet und
gesellschaftlich wohlerzogen wie nur denkbar zu machen, sorgte man
gleichzeitig ängstlich dafür, daß sie über alle natürlichen Dinge in einer für
uns heute unfaßbaren Ahnungslosigkeit verblieben. Ein junges Mädchen aus
guter Familie durfte keinerlei Vorstellungen haben, wie der männliche Körper
geformt sei, nicht wissen, wie Kinder auf die Welt kommen, denn der Engel
sollte ja nicht nur körperlich unberührt, sondern auch seelisch völlig ›rein‹ in
die Ehe treten. ›Gut erzogen‹ galt damals bei einem jungen Mädchen für
vollkommen identisch mit lebensfremd; und diese Lebensfremdheit ist den
Frauen jener Zeit manchmal für ihr ganzes Leben geblieben. Noch heute
amüsiert mich die groteske Geschichte einer Tante von mir, die in ihrer
Hochzeitsnacht um ein Uhr morgens plötzlich wieder in der Wohnung ihrer
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Titel
- Die Welt von Gestern
- Untertitel
- Erinnerungen eines Europäers
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1942
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 320
- Schlagwörter
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286