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Eltern erschien und Sturm läutete, sie wolle den gräßlichen Menschen nie
mehr sehen, mit dem man sie verheiratet habe, er sei ein Wahnsinniger und
ein Unhold, denn er habe allen Ernstes versucht, sie zu entkleiden. Nur mit
Mühe habe sie sich vor diesem sichtbar krankhaften Verlangen retten können.
Nun kann ich nicht verschweigen, daß diese Unwissenheit den jungen
Mädchen von damals anderseits einen geheimnisvollen Reiz verlieh. Diese
unflüggen Geschöpfe ahnten, daß es neben und hinter ihrer eigenen Welt
eine andere gäbe, von der sie nichts wußten und nichts wissen durften, und
das machte sie neugierig, sehnsüchtig, schwärmerisch und auf eine
anziehende Weise verwirrt. Wenn man sie auf der Straße grüßte, erröteten sie
– gibt es heute noch junge Mädchen, die erröten? Wenn sie miteinander allein
waren, kicherten und tuschelten und lachten sie unablässig wie leicht
Betrunkene. Voll Erwartung nach all dem Unbekannten, von dem sie
ausgeschlossen waren, träumten sie sich das Leben romantisch aus, waren
aber gleichzeitig voll Scham, daß jemand entdecken könnte, wie sehr ihr
Körper nach Zärtlichkeiten verlangte, von denen sie nichts Deutliches
wußten. Eine Art leiser Verwirrung irritierte unablässig ihr ganzes Gehaben.
Sie gingen anders als die Mädchen von heute, deren Körper gestählt sind
durch Sport, die sich unbefangen und leicht unter jungen Männern als
ihresgleichen bewegen; schon auf tausend Schritte konnte man damals am
Gang und am Gebaren ein junges Mädchen von einer Frau unterscheiden, die
schon einen Mann gekannt. Sie waren mehr Mädchen, als die Mädchen es
heute sind und weniger Frauen, in ihrem Wesen der exotischen Zartheit von
Treibhauspflanzen ähnlich, die im Glashaus in einer künstlich überwärmten
Atmosphäre und geschützt vor jedem bösen Windhauch aufgezogen werden:
das kunstvoll gezüchtete Produkt einer bestimmten Erziehung und Kultur.
Aber so wollte die Gesellschaft von damals das junge Mädchen, töricht und
unbelehrt, wohlerzogen und ahnungslos, neugierig und schamhaft, unsicher
und unpraktisch, und durch diese lebensfremde Erziehung von vornherein
bestimmt, in der Ehe dann willenlos vom Manne geformt und geführt zu
werden. Die Sitte schien sie zu behüten als das Sinnbild ihres geheimsten
Ideals, als das Symbol der weiblichen Sittsamkeit, der Jungfräulichkeit, der
Unirdischkeit. Aber welche Tragik dann, wenn eines dieser jungen Mädchen
seine Zeit versäumte, wenn es mit fünfundzwanzig, mit dreißig Jahren noch
nicht verheiratet war! Denn die Konvention verlangte erbarmungslos auch
von dem dreißigjährigen Mädchen, daß es diesen Zustand der Unerfahrenheit,
der Unbegehrlichkeit und Naivität, der ihrem Alter längst nicht mehr gemäß
war, um der ›Familie‹ und der ›Sitte‹ willen unverbrüchlich aufrechterhielt.
Aber dann verwandelte sich meist das zarte Bild in eine scharfe und grausame
Karikatur. Das unverheiratete Mädchen wurde zum ›sitzengebliebenen‹
Mädchen, das sitzengebliebene Mädchen zur ›alten Jungfer‹, an der sich der
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Titel
- Die Welt von Gestern
- Untertitel
- Erinnerungen eines Europäers
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1942
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 320
- Schlagwörter
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286