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schale Spott der Witzblätter unablässig übte. Wer heute einen alten Jahrgang
der ›Fliegenden Blätter‹ oder eines der anderen humoristischen Organe jener
Zeit aufschlägt, wird mit Grauen in jedem Heft die stupidesten Verspottungen
alternder Mädchen finden, die, in ihren Nerven verstört, ihr doch natürliches
Liebesverlangen nicht zu verbergen wissen. Statt die Tragödie zu erkennen,
die sich in diesen geopferten Existenzen vollzog, die um der Familie und ihres
guten Namens willen die Forderungen der Natur, das Verlangen nach Liebe
und Mutterschaft, in sich unterdrücken mußten, verhöhnte man sie mit einem
Unverständnis, das uns heute degoutiert. Aber immer ist eine Gesellschaft am
grausamsten gegen jene, die ihr Geheimnis verraten und offenbar machen, wo
sie durch Unaufrichtigkeit gegen die Natur einen Frevel begeht.
Versuchte damals die bürgerliche Konvention krampfhaft die Fiktion
aufrechtzuerhalten, daß eine Frau aus ›guten Kreisen‹ keine Sexualität besitze
und besitzen dürfe, solange sie nicht verheiratet sei – alles andere machte sie
zu einer ›unmoralischen Person‹, zu einem Outcast der Familie –, so war man
doch immerhin genötigt, bei einem jungen Mann das Vorhandensein solcher
Triebe zuzugeben. Da man mannbar gewordene junge Leute erfahrungsgemäß
nicht verhindern konnte, ihre vita sexualis auszuüben, beschränkte man sich
auf den bescheidenen Wunsch, sie sollten ihre unwürdigen Vergnügungen
extra muros der geheiligten Sitte erledigen. Wie die Städte unter den sauber
gekehrten Straßen mit ihren schönen Luxusgeschäften und eleganten
Promenaden unterirdische Kanalanlagen verbergen, in denen der Schmutz der
Kloaken abgeleitet wird, sollte das ganze sexuelle Leben der Jugend sich
unsichtbar unter der moralischen Oberfläche der ›Gesellschaft‹ abspielen.
Welche Gefahren der junge Mensch sich dabei aussetzte und in welche
Sphären er geriet, war gleichgültig, und Schule wie Familie verabsäumten
ängstlich, den jungen Mann in dieser Hinsicht aufzuklären. Hie und da nur
gab es in den letzten Jahren gewisse vorsorgliche oder, wie man damals sagte,
›aufgeklärt denkende‹ Väter, welche, sobald ihr Sohn die ersten Zeichen
sprossenden Bartwuchses trug, ihm auf den richtigen Weg helfen wollten.
Dann wurde der Hausarzt gerufen, der gelegentlich den jungen Menschen in
ein Zimmer bat, umständlich seine Brille putzte, ehe er einen Vortrag über die
Gefährlichkeit der Geschlechtskrankheiten begann und dem jungen Mann, der
gewöhnlich zu diesem Zeitpunkte längst sich selbst belehrt hatte, nahelegte,
mäßig zu sein und bestimmte Vorsichtsmaßregeln nicht außer acht zu lassen.
Andere Väter wandten ein noch sonderbareres Mittel an; sie engagierten für
das Haus ein hübsches Dienstmädchen, dem die Aufgabe zufiel, den jungen
Burschen praktisch zu belehren. Denn es schien ihnen besser, daß der junge
Mensch diese lästige Sache unter ihrem eigenen Dache abtäte, wodurch nach
außen hin das Dekorum gewahrt blieb und außerdem die Gefahr
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Titel
- Die Welt von Gestern
- Untertitel
- Erinnerungen eines Europäers
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1942
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 320
- Schlagwörter
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286