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ausgeschaltet, daß er irgendeiner ›raffinierten Person‹ in die Hände fallen
könnte. Eine Methode der Aufklärung blieb aber in allen Instanzen und
Formen entschlossen verpönt: die öffentliche und aufrichtige.
Welche Möglichkeiten ergaben sich nun für einen jungen Menschen der
bürgerlichen Welt? In allen anderen, in den sogenannten unteren Ständen war
das Problem kein Problem. Auf dem Lande schlief der Knecht schon mit
siebzehn Jahren mit einer Magd, und wenn das Verhältnis Folgen zeigte, so
hatte das weiter keinen Belang; in den meisten unserer Alpendörfer überstieg
die Zahl der unehelichen Kinder weitaus die der ehelichen. Im Proletariat
wieder lebte der Arbeiter, ehe er heiraten konnte, mit einer Arbeiterin
zusammen in ›wilder Ehe‹. Bei den orthodoxen Juden Galiziens wurde dem
Siebenjährigen, also dem kaum mannbaren Jüngling, die Braut zugeführt, und
mit vierzig Jahren konnte er bereits Großvater sein. Nur in unserer
bürgerlichen Gesellschaft war das eigentliche Gegenmittel, die frühe Ehe,
verpönt, weil kein Familienvater seine Tochter einem
zweiundzwanzigjährigen oder zwanzigjährigen jungen Menschen anvertraut
hätte, denn man hielt einen so ›jungen‹ Mann noch nicht für reif genug. Auch
hier enthüllte sich wieder eine innere Unaufrichtigkeit, denn der bürgerliche
Kalender stimmte keineswegs mit dem der Natur überein. Während für die
Natur mit sechzehn oder siebzehn, wurde für die Gesellschaft ein junger
Mann erst mannbar, wenn er sich eine ›soziale Position‹ geschaffen hatte, also
kaum vor dem fünfundzwanzigsten oder sechsundzwanzigsten Jahr. So
entstand ein künstliches Intervall von sechs, acht oder zehn Jahren zwischen
der wirklichen Mannbarkeit und jener der Gesellschaft, innerhalb dessen sich
der junge Mann um seine ›Gelegenheiten‹ oder ›Abenteuer‹ selber zu
bekümmern hatte.
Dafür gab die damalige Zeit ihm nicht allzu viele Möglichkeiten. Nur ganz
wenige, besonders reiche junge Leute konnten sich den Luxus leisten, eine
Mätresse ›auszuhalten‹, das heißt, ihr eine Wohnung zu nehmen und für ihren
Lebensunterhalt aufzukommen. Ebenso erfüllte sich nur einigen besonders
Glücklichen das damalige literarische Liebesideal – das einzige, das in
Romanen geschildert werden durfte –, das Verhältnis mit einer verheirateten
Frau. Die andern halfen sich meist mit Ladenmädchen und Kellnerinnen aus,
was wenig innere Befriedigung bot. Denn in jener Zeit vor der Emanzipation
der Frau und ihrer tätigen selbständigen Teilnahme am öffentlichen Leben
verfügten nur Mädchen aus allerärmster proletarischer Herkunft über
einerseits genug Unbedenklichkeit, anderseits genug Freiheit für solche
flüchtigen Beziehungen ohne ernste Heiratsabsichten. Schlecht gekleidet,
abgemüdet nach einem zwölfstündigen, jämmerlich bezahlten Tagewerk,
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Titel
- Die Welt von Gestern
- Untertitel
- Erinnerungen eines Europäers
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1942
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 320
- Schlagwörter
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286