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ungepflegt (ein Badezimmer war in jenen Zeiten noch das Privileg reicher
Familien), und in einem engen Lebenskreise aufgewachsen, standen diese
armen Wesen so tief unter dem Niveau ihrer Liebhaber, daß diese sich meist
selbst scheuten, öffentlich mit ihnen gesehen zu werden. Zwar hatte für diese
Peinlichkeit die vorsorgliche Konvention ihre besonderen Maßnahmen
erfunden, die sogenannten Chambres Séparées, wo man mit einem Mädchen
ungesehen zu Abend essen konnte, und alles andere erledigte sich in den
kleinen Hotels der dunklen Seitenstraßen, die ausschließlich auf diesen
Betrieb eingerichtet waren. Aber all diese Begegnungen mußten flüchtig und
ohne eigentliche Schönheit bleiben, mehr Sexualität als Eros, weil immer nur
hastig und heimlich wie eine verbotene Sache getan. Dann gab es allenfalls
noch die Möglichkeit der Beziehung zu einem jener amphibischen Wesen, die
halb außerhalb, halb innerhalb der Gesellschaft standen, Schauspielerinnen,
Tänzerinnen, Künstlerinnen, den einzig ›emanzipierten‹ Frauen jener Zeit.
Aber im allgemeinen blieb das Fundament des damaligen erotischen Lebens
außerhalb der Ehe die Prostitution; sie stellte gewissermaßen das dunkle
Kellergewölbe dar, über dem sich mit makellos blendender Fassade der
Prunkbau der bürgerlichen Gesellschaft erhob.
Von der ungeheuren Ausdehnung der Prostitution in Europa bis zum
Weltkriege hat die gegenwärtige Generation kaum mehr eine Vorstellung.
Während heute auf den Großstadtstraßen Prostituierte so selten anzutreffen
sind wie Pferde auf der Fahrbahn, waren damals die Gehsteige derart
durchsprenkelt mit käuflichen Frauen, daß es schwerer hielt, ihnen
auszuweichen, als sie zu finden. Dazu kamen noch die zahlreichen
›geschlossenen Häuser‹, die Nachtlokale, die Kabaretts, die Tanzdielen mit
ihren Tänzerinnen und Sängerinnen, die Bars mit ihren Animiermädchen. In
jeder Preislage und zu jeder Stunde war damals weibliche Ware offen
ausgeboten, und es kostete einen Mann eigentlich ebensowenig Zeit und
Mühe, sich eine Frau für eine Viertelstunde, eine Stunde oder Nacht zu
kaufen wie ein Paket Zigaretten oder eine Zeitung. Nichts scheint mir die
größere Ehrlichkeit und Natürlichkeit der gegenwärtigen Lebens- und
Liebesformen so sehr zu bekräftigen, wie daß es der Jugend von heute
möglich und fast selbstverständlich geworden ist, diese einst unentbehrliche
Institution zu entbehren, und daß es nicht die Polizei, nicht die Gesetze
gewesen, welche die Prostitution aus unserer Welt zurückgedrängt haben,
sondern daß sich dieses tragische Produkt einer Pseudomoral bis auf spärliche
Reste durch verminderte Nachfrage selbst erledigt hat.
Die offizielle Stellung des Staates und seiner Moral gegenüber dieser
dunklen Angelegenheit war nun niemals recht behaglich. Vom sittlichen
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Titel
- Die Welt von Gestern
- Untertitel
- Erinnerungen eines Europäers
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1942
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 320
- Schlagwörter
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286