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Standpunkt aus wagte man einer Frau das Recht zum Selbstverkauf
nicht offen zuzuerkennen, vom hygienischen Standpunkt aus konnte man
wiederum die Prostitution, da sie die lästige außereheliche Sexualität
kanalisierte, nicht entbehren. So suchten sich die Autoritäten mit einer
Zweideutigkeit zu helfen, indem sie eine Teilung machten zwischen geheimer
Prostitution, die der Staat als unmoralisch und gefährlich bekämpfte, und
einer erlaubten Prostitution, die mit einer Art Gewerbeschein versehen und
vom Staate besteuert war. Ein Mädchen, das sich entschlossen hatte,
Prostituierte zu werden, bekam von der Polizei eine besondere Konzession
und als Berechtigungsschein ein eigenes Buch. Indem sie sich polizeilicher
Kontrolle unterstellte und der Pflicht genügte, sich zweimal in der Woche
ärztlich untersuchen zu lassen, hatte sie das Gewerberecht erworben, ihren
Körper zu jedem ihr richtig dünkenden Preise zu vermieten. Sie war
anerkannt als Beruf innerhalb aller anderen Berufe, aber – hier kam der
Pferdefuß der Moral – doch nicht vollkommen anerkannt. So konnte zum
Beispiel eine Prostituierte, wenn sie ihre Ware, das heißt, ihren Körper, an
einen Mann verkauft hatte und er nachher die vereinbarte Bezahlung
verweigerte, nicht gegen ihn Klage führen. Dann war mit einemmal ihre
Forderung – ob turpem causam, wie das Gesetz motivierte – plötzlich eine
unmoralische geworden, die nicht den Schutz der Obrigkeit fand.
Schon an solchen Einzelheiten spürte man die Zwiespältigkeit einer
Auffassung, die einerseits diese Frauen einordnete in ein staatlich erlaubtes
Gewerbe, sie aber persönlich als Outcasts außerhalb des allgemeinen Rechts
stellte. Aber die eigentliche Unwahrhaftigkeit bestand in der Handhabung,
daß alle diese Beschränkungen nur für die ärmeren Klassen galten. Eine
Ballettänzerin, die für zweihundert Kronen in Wien ebenso zu jeder Stunde
und für jeden Mann zu haben war wie das Straßenmädchen für zwei Kronen,
brauchte selbstverständlich keinen Gewerbeschein; die großen
Demimondaines wurden sogar in der Zeitung in dem Bericht über das
Trabrennen oder Derby unter den prominenten Anwesenden genannt, weil sie
eben schon selbst zur ›Gesellschaft‹ gehörten. Ebenso standen einige der
vornehmsten Vermittlerinnen, die den Hof, die Aristokratie und die reiche
Bürgerschaft mit Luxusware versorgten, jenseits des Gesetzes, das sonst
Kuppelei mit schweren Gefängnisstrafen belegte. Die strenge Disziplin, die
mitleidslose Überwachung und die soziale Ächtung hatten nur Geltung
innerhalb der Armee der Tausende und Tausende, welche mit ihrem Körper
und ihrer gedemütigten Seele eine alte und längst unterhöhlte
Moralauffassung gegen freie und natürliche Liebesformen verteidigen sollte.
Diese ungeheure Armee der Prostitution war – ebenso wie die wirkliche
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Titel
- Die Welt von Gestern
- Untertitel
- Erinnerungen eines Europäers
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1942
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 320
- Schlagwörter
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286