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Armee in einzelne Heeresteile, Kavallerie, Artillerie, Infanterie,
Festungsartillerie – in einzelne Gattungen aufgeteilt. Der Festungsartillerie
entsprach in der Prostitution am ehesten jene Gruppe, die bestimmte Straßen
der Stadt als ihr Quartier völlig besetzt hielt. Es waren meist jene Gegenden,
wo früher im Mittelalter der Galgen gestanden hatte oder ein Leprosenspital
oder ein Kirchhof, wo die Freimänner, die Henker und die anderen sozial
Geächteten Unterschlupf gefunden, Gegenden also, welche die Bürgerschaft
schon seit Jahrhunderten als Wohnsitz lieber mied. Dort wurden von den
Behörden einige Gassen als Liebesmarkt freigegeben: Tür an Tür saßen wie
im Yoshiwara Japans oder am Fischmarkt in Kairo noch im zwanzigsten
Jahrhundert zweihundert oder fünfhundert Frauen, eine neben der andern, an
den Fenstern ihrer ebenerdigen Wohnungen zur Schau, billige Ware, die in
zwei Schichten, Tagschicht und Nachtschicht, arbeitete.
Der Kavallerie oder Infanterie entsprach die ambulante Prostitution, die
zahllosen käuflichen Mädchen, die sich Kunden auf der Straße suchten. In
Wien wurden sie allgemein ›Strichmädchen‹ genannt, weil ihnen von der
Polizei mit einem unsichtbaren Strich das Trottoir abgegrenzt war, das sie für
ihre Werbezwecke benutzen durften; bei Tag und Nacht bis tief ins
Morgengrauen schleppten sie eine mühsam erkaufte, falsche Eleganz auch bei
Eis und Regen über die Straßen, immer wieder für jeden Vorübergehenden
das schon müde gewordene, schlecht geschminkte Gesicht zu einem
verlockenden Lächeln zwingend. Und alle Städte erscheinen mir heute
schöner und humaner, seit diese Scharen hungriger, unfroher Frauen nicht
mehr die Straßen bevölkern, die ohne Lust Lust feilboten und bei ihrem
endlosen Wandern von einer Ecke zur andern schließlich doch alle denselben
unvermeidlichen Weg gingen: den Weg ins Spital.
Aber auch diese Massen genügten noch nicht für den ständigen Konsum.
Manche wollten es noch bequemer und diskreter haben, als auf der Straße
diesen flatternden Fledermäusen oder traurigen Paradiesvögeln nachzujagen.
Sie wollten die Liebe behaglicher: mit Licht und Wärme, mit Musik und Tanz
und einem Schein von Luxus. Für diese Klienten gab es die ›geschlossenen
Häuser‹, die Bordelle. Dort versammelten sich in einem sogenannten, mit
falschem Luxus eingerichteten ›Salon‹ die Mädchen in teils damenhaften
Toiletten, teils schon unzweideutigen Negligés. Ein Klavierspieler sorgte für
musikalische Unterhaltung, es wurde getrunken und getanzt und geplaudert,
ehe sich die Paare diskret in ein Schlafzimmer zurückzogen; in manchen der
vornehmeren Häuser, besonders in Paris und in Mailand, die eine gewisse
internationale Berühmtheit hatten, konnte ein naives Gemüt der Illusion
anheimfallen, in ein Privathaus mit etwas übermütigen Gesellschaftsdamen
eingeladen zu sein. Äußerlich hatten es die Mädchen in diesen Häusern besser
im Vergleich zu den ambulanten Straßenmädchen. Sie mußten nicht in Wind
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Titel
- Die Welt von Gestern
- Untertitel
- Erinnerungen eines Europäers
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1942
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 320
- Schlagwörter
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286