Seite - 70 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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und Regen durch Kot und Gassen wandern, sie saßen im warmen Raum,
bekamen gute Kleider, reichlich zu essen und insbesondere reichlich zu
trinken. Dafür waren sie in Wahrheit Gefangene ihrer Wirtinnen, welche die
Kleider, die sie trugen, ihnen zu Wucherpreisen aufzwangen und mit dem
Pensionspreis solche rechnerischen Kunststücke trieben, daß auch das
fleißigste und ausdauerndste Mädchen in einer Art Schuldhaft blieb und nie
nach seinem freien Willen das Haus verlassen konnte.
Die geheime Geschichte mancher dieser Häuser zu schreiben, wäre
spannend und auch dokumentarisch wesentlich für die Kultur jener Zeit, denn
sie bargen die sonderbarsten, den sonst so strengen Behörden
selbstverständlich wohlbekannten Heimlichkeiten. Da waren Geheimtüren
und eine besondere Treppe, durch die Mitglieder der allerhöchsten
Gesellschaft – und wie man munkelte, selbst des Hofes Besuch machen
konnten, ohne von den anderen Sterblichen gesehen zu werden. Da waren
Spiegelzimmer und solche, die geheimen Zublick in nachbarliche Zimmer
boten, in denen sich Paare ahnungslos vergnügten. Da waren die
sonderbarsten Kostümverkleidungen, vom Nonnengewand bis zum
Ballerinenkleid, in Laden und Truhen für besondere Fetischisten
verschlossen. Und es war dieselbe Stadt, dieselbe Gesellschaft, dieselbe
Moral, die sich entrüstete, wenn junge Mädchen Zweirad fuhren, die es als
eine Schändung der Würde der Wissenschaft erklärten, wenn Freud in seiner
ruhigen, klaren und durchdringenden Weise Wahrheiten feststellte, die sie
nicht wahrhaben wollten. Dieselbe Welt, die so pathetisch die Reinheit der
Frau verteidigte, duldete diesen grauenhaften Selbstverkauf, organisierte ihn
und profitierte sogar daran.
Man lasse sich also nicht durch die sentimentalen Romane oder Novellen
jener Epoche irreführen; es war für die Jugend eine schlimme Zeit, die jungen
Mädchen luftdicht vom Leben abgeschlossen unter die Kontrolle der Familie
gestellt, in ihrer freien körperlichen wie geistigen Entwicklung gehemmt, die
jungen Männer wiederum zu Heimlichkeiten und Hinterhältigkeiten gedrängt
von einer Moral, die im Grunde niemand glaubte und befolgte. Unbefangene,
ehrliche Beziehungen, also gerade was der Jugend nach dem Gesetz der Natur
hätte Beglückung und Beseligung bedeuten sollen, waren nur den
allerwenigsten gegönnt. Und wer von jener Generation sich redlich seiner
allerersten Begegnungen mit Frauen erinnern will, wird wenige Episoden
finden, deren er wirklich mit ungetrübter Freude gedenken kann. Denn außer
der gesellschaftlichen Bedrückung, die ständig zur Vorsicht und
Verheimlichung zwang, überschattete damals noch ein anderes Element die
Seele nach und selbst in den zärtlichsten Augenblicken: die Angst vor der
Infektion. Auch hier war die Jugend von damals benachteiligt im Vergleich zu
jener von heute, denn es darf nicht vergessen werden, daß vor vierzig Jahren
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Titel
- Die Welt von Gestern
- Untertitel
- Erinnerungen eines Europäers
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1942
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 320
- Schlagwörter
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286