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die sexuellen Seuchen hundertfach mehr verbreitet waren als heute und vor
allem hundertfach gefährlicher und schrecklicher sich auswirkten, weil die
damalige Praxis ihnen klinisch noch nicht beizukommen wußte. Noch bestand
keine wissenschaftliche Möglichkeit, sie wie heute derart rasch und radikal zu
beseitigen, daß sie kaum mehr als eine Episode bilden. Während heutzutage
an den Kliniken kleinerer und mittlerer Universitäten dank der Therapie Paul
Ehrlichs oft Wochen vergehen, ohne daß der Ordinarius seinen Studenten
einen frisch infizierten Fall von Syphilis zeigen kann, ergab damals die
Statistik beim Militär und in den Großstädten, daß unter zehn jungen Leuten
mindestens einer oder zwei schon Infektionen zum Opfer gefallen waren.
Unablässig wurde die Jugend damals an die Gefahr gemahnt; wenn man in
Wien durch die Straßen ging, konnte man an jedem sechsten oder siebenten
Haus die Tafel ›Spezialarzt für Haut- und Geschlechtskrankheiten‹ lesen, und
zu der Angst vor der Infektion kam noch das Grauen vor der widrigen und
entwürdigenden Form der damaligen Kuren, von denen gleichfalls die Welt
von heute nichts mehr weiß. Durch Wochen und Wochen wurde der ganze
Körper eines mit Syphilis Infizierten mit Quecksilber eingerieben, was
wiederum zur Folge hatte, daß die Zähne ausfielen und sonstige
Gesundheitsschädigungen eintraten; das unglückliche Opfer eines schlimmen
Zufalls fühlte sich also nicht nur seelisch, sondern auch physisch beschmutzt,
und selbst nach einer solchen grauenhaften Kur konnte der Betroffene
lebenslang nicht gewiß sein, ob nicht jeden Augenblick der tückische Virus
aus seiner Verkapselung wieder erwachen könnte, vom Rückenmark aus die
Glieder lähmend, hinter der Stirn das Gehirn erweichend. Kein Wunder
darum, daß damals viele junge Leute sofort, wenn bei ihnen die Diagnose
gestellt wurde, zum Revolver griffen, weil sie das Gefühl, sich selbst und
ihren nächsten Verwandten als unheilbar verdächtig zu sein, unerträglich
fanden. Dazu kamen noch die anderen Sorgen einer immer nur heimlich
ausgeübten vita sexualis. Suche ich mich redlich zu erinnern, so weiß ich
kaum einen Kameraden meiner Jugendjahre, der nicht einmal blaß und
verstörten Blicks gekommen wäre, der eine, weil er erkrankt war oder eine
Erkrankung befürchtete, der zweite, weil er unter einer Erpressung wegen
einer Abtreibung stand, der dritte, weil ihm das Geld fehlte, ohne Wissen
seiner Familie eine Kur durchzumachen, der vierte, weil er nicht wußte, wie
die Alimente für ein von einer Kellnerin ihm zugeschobenes Kind zu
bezahlen, der fünfte, weil ihm in einem Bordell die Brieftasche gestohlen
worden war und er nicht wagte, Anzeige zu machen. Viel dramatischer und
anderseits unsauberer, viel spannungshafter und gleichzeitig bedrückender
war also die Jugend in jener pseudo-moralischen Zeit, als sie die Romane und
Theaterstücke ihrer Hofdichter schildern. Wie in Schule und Haus war auch in
der Sphäre des Eros der Jugend fast nie die Freiheit und das Glück gewährt,
zu dem sie ihr Lebensalter bestimmte.
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Titel
- Die Welt von Gestern
- Untertitel
- Erinnerungen eines Europäers
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1942
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 320
- Schlagwörter
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286