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Schrift mich aus dem Totenreiche grüßte. Die unvermutetste Überraschung
von allen jedoch war, daß Max Reger, neben Richard Strauss der größte
damals lebende Komponist, sich an mich um die Erlaubnis wandte, sechs
Gedichte aus diesem Bande vertonen zu dürfen; wie oft habe ich seitdem
davon eines oder das andere in Konzerten gehört – meine eigenen, von mir
selbst längst vergessenen und verworfenen Verse durch die brüderliche Kunst
eines Meisters hinübergetragen über die Zeit.
Diese unverhofften Zustimmungen, die auch von freundlichen öffentlichen
Kritiken begleitet waren, zeitigten immerhin die Wirkung, mich zu einem
Schritt zu ermutigen, den ich bei meinem unheilbaren Mißtrauen gegen mich
selbst nie oder zumindest nicht so frühzeitig unternommen hätte. Schon in der
Gymnasialzeit hatte ich außer Gedichten kleinere Novellen und Essays in den
literarischen Zeitschriften der ›Moderne‹ veröffentlicht, nie aber mich
unterfangen, einen jener Versuche einer mächtigen und weitverbreiteten
Zeitung anzubieten. In Wien gab es eigentlich nur ein einziges publizistisches
Organ hohen Ranges, die ›Neue Freie Presse‹, die durch ihre vornehme
Haltung, ihre kulturelle Bemühtheit und ihr politisches Prestige für die ganze
österreichisch-ungarische Monarchie etwa das gleiche bedeutete wie die
›Times‹ für die englische Welt und der ›Temps‹ für die französische; selbst
keine der reichsdeutschen Zeitungen war so sehr um ein repräsentatives
kulturelles Niveau bemüht. Ihr Herausgeber, Moritz Benedikt, ein Mann von
phänomenaler Organisationsgabe und unermüdlichem Fleiß, setzte seine
ganze, geradezu dämonische Energie daran, auf dem Gebiete der Literatur
und Kultur alle deutschen Zeitungen zu übertreffen. Wenn er von einem
namhaften Autor etwas begehrte, wurden keine Kosten gescheut, zehn und
zwanzig Telegramme hintereinander an ihn gesandt, jedes Honorar im voraus
bewilligt; die Feiertagsnummern zu Weihnachten und Neujahr stellten mit
ihren literarischen Beilagen ganze Bände mit den größten Namen der Zeit dar:
Anatole France, Gerhart Hauptmann, Ibsen, Zola, Strindberg und Shaw
fanden sich bei dieser Gelegenheit zusammen in diesem Blatte, das für die
literarische Orientierung der ganzen Stadt, des ganzen Landes unermeßlich
viel getan hat. Selbstverständlich ›fortschrittlich‹ und liberal in seiner
Weltanschauung, solid und vorsichtig in seiner Haltung, repräsentierte dieses
Blatt in vorbildlicher Art den hohen kulturellen Standard des alten Österreich.
Dieser Tempel des ›Fortschritts‹ barg nun noch ein besonderes Heiligtum,
das sogenannte ›Feuilleton‹, das wie die großen Pariser Tageszeitungen, der
›Temps‹ und das ›Journal des Débats‹, die gediegensten und vollendetsten
Aufsätze über Dichtung, Theater, Musik und Kunst ›unter dem Strich‹ in
deutlicher Sonderung von dem Ephemeren der Politik und des Tages
publizierte. Hier durften nur die Autoritäten, die schon lange Bewährten zu
Wort kommen. Einzig die Gediegenheit des Urteils, vergleichende Erfahrung
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Titel
- Die Welt von Gestern
- Untertitel
- Erinnerungen eines Europäers
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1942
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 320
- Schlagwörter
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286