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vieler Jahre und vollendete Kunstform konnten einen Autor nach Jahren der
Erprobtheit an diese heilige Stelle berufen. Ludwig Speidel, ein Meister der
Kleinkunst, Eduard Hanslick hatten für Theater und Musik dort die gleiche
päpstliche Autorität wie Sainte-Beuve in Paris in seinen ›Lundis‹; ihr Ja oder
Nein entschied für Wien den Erfolg eines Werks, eines Theaterstücks, eines
Buches und damit oft eines Menschen. Jeder dieser Aufsätze war das
jeweilige Tagesgespräch der gebildeten Kreise, sie wurden diskutiert,
kritisiert, bewundert oder befeindet, und wenn einmal ein neuer Name
inmitten der längst respektvoll anerkannten ›Feuilletonisten‹ auftauchte,
bedeutete dies ein Ereignis. Von der jüngeren Generation hatte einzig
Hofmannsthal mit einigen seiner herrlichen Aufsätze dort gelegentlich
Eingang gefunden; sonst mußten jüngere Autoren sich beschränken,
rückwärts im Literaturblatt versteckt, sich einzuschmuggeln. Wer auf der
ersten Seite schrieb, hatte seinen Namen für Wien in Marmor gegraben.
Wie ich die Courage fand, eine kleine dichterische Arbeit der ›Neuen
Freien Presse‹, dem Orakel meiner Väter und der Heimstatt der siebenfach
Gesalbten, anzubieten, ist mir heute nicht mehr faßbar. Aber schließlich, mehr
als eine Zurückweisung konnte mir nicht widerfahren. Der Redakteur des
Feuilletons empfing dort bloß an einem Tage der Woche zwischen zwei und
drei Uhr, da durch den regelmäßigen Turnus der berühmten, festangestellten
Mitarbeiter nur ganz selten Raum für die Arbeit eines Außenseiters war. Nicht
ohne Herzklopfen stieg ich die kleine Wendeltreppe zu dem Büro empor und
ließ mich anmelden. Nach einigen Minuten kam der Diener zurück, der Herr
Feuilletonredakteur lasse bitten, und ich trat in das enge, schmale Zimmer.
Der Feuilletonredakteur der ›Neuen Freien Presse‹ hieß Theodor Herzl, und
es war der erste Mann welthistorischen Formats, dem ich in meinem Leben
gegenüberstand – freilich ohne selbst zu wissen, welch ungeheure Wendung
seine Person im Schicksal des jüdischen Volkes und in der Geschichte unserer
Zeit zu erschaffen berufen war. Seine Stellung war damals noch zwiespältig
und unübersehbar. Er hatte mit dichterischen Versuchen begonnen, früh eine
blendende journalistische Begabung gezeigt und war zuerst als Pariser
Korrespondent, dann als Feuilletonist der ›Neuen Freien Presse‹ der Liebling
des Wiener Publikums geworden. Seine Aufsätze, heute noch bezaubernd
durch ihren Reichtum an scharfen und oft weisen Beobachtungen, ihre
stilistische Anmut, ihren edlen Charme, der selbst im Heiteren wie Kritischen
nie die eingeborene Noblesse verlor, waren das Kultivierteste, was man sich
im Journalistischen erdenken konnte, und das Entzücken einer Stadt, die für
Subtiles den Sinn sich geschult hatte. Auch im Burgtheater hatte er mit einem
Stück Erfolg gehabt, und nun war er ein angesehener Mann, vergöttert von
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Titel
- Die Welt von Gestern
- Untertitel
- Erinnerungen eines Europäers
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1942
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 320
- Schlagwörter
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286