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und schreibt er für Narrheiten? Warum sollen wir nach Palästina? Unsere
Sprache ist deutsch und nicht hebräisch, unsere Heimat das schöne
Österreich. Geht es uns nicht vortrefflich unter dem guten Kaiser Franz
Joseph? Haben wir nicht unser anständiges Fortkommen, unsere gesicherte
Stellung? Sind wir nicht gleichberechtigte Staatsangehörige, nicht
eingesessene und treue Bürger dieses geliebten Wien? Und leben wir nicht in
einer fortschrittlichen Zeit, welche alle konfessionellen Vorurteile in ein paar
Jahrzehnten beseitigen wird? Warum gibt er, der doch als Jude spricht und
dem Judentum helfen will, unseren bösesten Feinden Argumente in die Hand
und versucht uns zu sondern, da doch jeder Tag uns näher und inniger der
deutschen Welt verbindet? Die Rabbiner ereiferten sich von den Kanzeln, der
Leiter der ›Neuen Freien Presse‹ verbot, das Wort Zionismus in
seiner ›fortschrittlichen‹ Zeitung auch nur zu erwähnen. Der Thersites der
Wiener Literatur; der Meister des giftigen Spotts, Karl Kraus, schrieb eine
Broschüre ›Eine Krone für Zion‹, und wenn Theodor Herzl das Theater betrat,
murmelte man spöttelnd durch alle Reihen: »Seine Majestät ist erschienen!«
Im ersten Augenblick konnte Herzl sich mißverstanden fühlen; Wien, wo er
sich durch seine jahrelange Beliebtheit am sichersten vermeinte, verließ und
verlachte ihn sogar. Aber dann dröhnte Antwort mit solcher Wucht und
Ekstase so plötzlich zurück, daß er beinahe erschrak, eine wie mächtige, ihn
weit überwachsende Bewegung er mit seinen paar Dutzend Seiten in die Welt
gerufen. Sie kam freilich nicht von den behaglich lebenden, wohlsituierten
bürgerlichen Juden des Westens, sondern von den riesigen Massen des
Ostens, von dem galizischen, dem polnischen, dem russischen
Ghettoproletariat. Ohne es zu ahnen, hatte Herzl mit seiner Broschüre den
unter der Asche der Fremde glühenden Kern des Judentums zum Aufflammen
gebracht, den tausendjährigen messianischen Traum der in den heiligen
Büchern bekräftigten Verheißung der Rückkehr ins Gelobte Land – diese
Hoffnung und zugleich religiöse Gewißheit, welche einzig jenen getretenen
und geknechteten Millionen das Leben noch sinnvoll machte. Immer, wenn
einer – Prophet oder Betrüger – in den zweitausend Jahren des Golus an diese
Saite gerührt, war die ganze Seele des Volkes in Schwingung gekommen, nie
aber so gewaltig wie diesmal, nie mit solchem brausenden, rauschenden
Widerhall. Mit ein paar Dutzend Seiten hatte ein einzelner Mann eine
verstreute, verzwistete Masse zur Einheit geformt.
Dieser erste Augenblick, solange die Idee noch traumhaft ungewisse
Formen hatte, war bestimmt, der glücklichste in Herzls kurzem Leben zu sein.
Sobald er begann, die Ziele im realen Raum zu fixieren, die Kräfte zu
binden, mußte er erkennen, wie disparat dieses sein Volk geworden war unter
den verschiedenen Völkern und Schicksalen, hier die religiösen, dort die
freigeistigen, hier die sozialistischen, dort die kapitalistischen Juden, in allen
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Titel
- Die Welt von Gestern
- Untertitel
- Erinnerungen eines Europäers
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1942
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 320
- Schlagwörter
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286