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aber glücklicherweise rechtzeitig, indem ich eines Morgens meine Eltern mit
der Mitteilung überraschte, ich wolle das nächste Semester in Berlin
studieren. Und meine Familie respektierte mich oder vielmehr die ›Neue Freie
Presse‹, in deren goldenem Schatten ich stand, zu sehr, um mir meinen
Wunsch nicht zu gewähren.
Selbstverständlich dachte ich nicht daran, in Berlin zu »studieren«. Ich
habe dort die Universität ebenso wie in Wien nur zweimal im Verlauf eines
Semesters aufgesucht, einmal, um die Vorlesungen zu inskribieren, und das
zweitemal, um mir ihren vorgeblichen Besuch testieren zu lassen. Was ich in
Berlin suchte, waren weder Kollegien noch Professoren, sondern eine höhere
und noch vollkommenere Art der Freiheit. In Wien fühlte ich mich immerhin
noch an das Milieu gebunden. Die literarischen Kollegen, mit denen ich
verkehrte, stammten fast alle aus der gleichen jüdisch-bürgerlichen Schicht
wie ich selbst; in der engen Stadt, wo jeder von jedem wußte, blieb ich
unweigerlich der Sohn aus einer ›guten‹ Familie, und ich war müde der
sogenannten ›guten‹ Gesellschaft; ich wollte sogar einmal ausgesprochen
›schlechte‹ Gesellschaft, eine ungezwungene, unkontrollierte Form der
Existenz. Wer in Berlin an der Universität Philosophie dozierte, hatte ich
nicht einmal im Verzeichnis nachgesehen; mir genügte es zu wissen, daß die
›neue‹ Literatur sich dort aktiver, impulsiver gebärdete als bei uns, daß man
dort Dehmel und anderen Dichtern der jungen Generation begegnen konnte,
daß dort ununterbrochen Zeitschriften, Kabaretts, Theater gegründet wurden,
kurzum, daß dort, wie man auf Wienerisch sagte, ›etwas los war‹.
In der Tat kam ich nach Berlin in einem sehr interessanten, historischen
Augenblick. Seit 1870, da Berlin aus der recht nüchternen, kleinen und
durchaus nicht reichen Hauptstadt des Königreichs Preußen die Residenzstadt
des deutschen Kaisers geworden war, hatte der unscheinbare Ort an der Spree
einen mächtigen Aufschwung genommen. Aber noch war Berlin die Führung
in künstlerischen und kulturellen Angelegenheiten nicht zugefallen; München
galt mit seinen Malern und Dichtern als die eigentliche Zentrale der Kunst,
die Dresdner Oper dominierte in der Musik, die kleinen Residenzen zogen
wertvolle Elemente an sich; vor allem aber war Wien mit seiner
hundertjährigen Tradition, seiner konzentrierten Kraft, seinem natürlichen
Talent Berlin bisher noch immer weit überlegen geblieben. Jedoch in den
letzten Jahren begann sich mit dem rapiden wirtschaftlichen Aufstieg
Deutschlands das Blatt zu wenden. Die großen Konzerne, die vermögenden
Familien zogen nach Berlin, und neuer Reichtum, gepaart mit einem starken
Wagemut, eröffnete der Architektur, dem Theater hier größere Möglichkeiten
als in einer anderen großen deutschen Stadt. Die Museen vergrößerten sich
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Titel
- Die Welt von Gestern
- Untertitel
- Erinnerungen eines Europäers
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1942
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 320
- Schlagwörter
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286