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Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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sämtlichen Bemühungen sich das Sümmchen von 67 Pfennigen ergab. Ich lachte zuerst darüber; charakteristischer aber war, daß ich selbst nach wenigen Tagen schon diesem peinlichen preußischen Ordnungssinn erlag und zum ersten und letzten Male in meinem Leben ein genaues Ausgabenbuch führte. Von Wiener Freunden hatte ich eine ganze Reihe von Empfehlungen mitbekommen. Aber ich gab keine einzige ab. Es war doch der eigentliche Sinn meiner Eskapade, jeder gesicherten und bürgerlichen Atmosphäre zu entkommen und statt dessen losgelöst und ganz auf mich gestellt zu leben. Ich wollte ausschließlich Menschen kennenlernen, zu denen ich den Weg durch meine eigenen literarischen Bemühungen gefunden hatte – und möglichst interessante Menschen; schließlich hatte man nicht umsonst die ›Bohème‹ gelesen und mußte als Zwanzigjähriger wünschen, auch derlei zu erleben. Einen solchen wild und wahllos zusammengewürfelten Kreis brauchte ich nun nicht lange zu suchen. Ich hatte von Wien aus längst an dem führenden Blatt der Berliner ›Moderne‹, das sich fast ironisch ›Die Gesellschaft‹ nannte und von Ludwig Jacobowski geleitet war, mitgearbeitet. Dieser junge Dichter hatte kurz vor seinem frühen Tode einen Verein mit dem für die Jugend verführerischen Namen ›Die Kommenden‹ gegründet, der einmal in der Woche sich im ersten Stock eines Kaffeehauses am Nollendorfplatz versammelte. In dieser der Pariser ›Closerie des Lilas‹ nachgebildeten riesigen Runde drängte sich das Heterogenste zusammen, Dichter und Architekten, Snobs und Journalisten, junge Mädchen, die sich als Kunstgewerblerinnen oder Bildhauerinnen drapierten, russische Studenten und schneeblonde Skandinavierinnen, die sich in der deutschen Sprache vervollkommnen wollten. Deutschland selbst hatte aus allen seinen Provinzen Vertreter zur Stelle, starkknochige Westfalen, biedere Bayern, schlesische Juden: all das mengte sich in wilden Diskussionen und mit voller Ungezwungenheit. Ab und zu wurden Gedichte oder Dramen vorgelesen, die Hauptsache aber war für alle das gegenseitige Kennenlernen. Inmitten dieser jungen Menschen, die sich bewußt als Bohème gebärdeten, saß rührend wie ein Weihnachtsmann ein alter, graubärtiger Mann, von allen respektiert und geliebt, weil ein wirklicher Dichter und wirklicher Bohèmien: Peter Hille. Dieser Siebzigjährige mit seinen blauen Hundeaugen blickte gutmütig und arglos in diese sonderbare Kinderschar, immer in seinen grauen Wettermantel gehüllt, der einen ganz zerfransten Anzug und sehr schmutzige Wäsche verdeckte; gerne ließ er sich jedesmal von unserem Drängen verleiten, aus einer seiner Rocktaschen ganz zerknüllte Manuskripte hervorzuholen und seine Gedichte vorzulesen. Es waren Gedichte ungleicher Art, eigentlich Improvisationen eines lyrischen Genius, nur zu locker, zu zufällig geformt. Er schrieb sie in der Straßenbahn oder im Café mit Bleistift hin, vergaß sie dann und hatte Mühe, beim Vorlesen in dem verwischten und verfleckten Zettel die 89
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Die Welt von Gestern Erinnerungen eines Europäers
Titel
Die Welt von Gestern
Untertitel
Erinnerungen eines Europäers
Autor
Stefan Zweig
Datum
1942
Sprache
deutsch
Lizenz
PD
Abmessungen
21.0 x 29.7 cm
Seiten
320
Schlagwörter
Biographie, Litertaur, Schriftsteller
Kategorie
Biographien

Inhaltsverzeichnis

  1. Vorwort 5
  2. Die Welt der Sicherheit 10
  3. Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
  4. Eros Matutinus 56
  5. Universitas vitae 74
  6. Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
  7. Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
  8. Über Europa hinaus 135
  9. Glanz und Schatten über Europa 145
  10. Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
  11. Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
  12. Im Herzen Europas 189
  13. Heimkehr nach Österreich 208
  14. Wieder in der Welt 224
  15. Sonnenuntergang 240
  16. Incipit Hitler 263
  17. Die Agonie des Friedens 286
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