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Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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Worte wiederzufinden. Geld hatte er niemals, aber er kümmerte sich nicht um Geld, schlief bald bei diesem, bald bei jenem zu Gast, und seine Weltvergessenheit, seine absolute Ehrgeizlosigkeit hatten etwas ergreifend Echtes. Man verstand eigentlich nicht, wann und wie dieser gute Waldmensch in die große Stadt Berlin geraten war und was er hier wollte. Aber er wollte gar nichts, nicht berühmt, nicht gefeiert sein, und war doch sorgloser und freier dank seiner dichterischen Traumhaftigkeit, als ich es je später bei einem anderen Menschen gesehen. Um ihn lärmten und überschrien sich die ehrgeizigen Diskutanten; er hörte milde zu, stritt mit keinem, hob manchmal mit freundlichem Gruß einem das Glas entgegen, aber er mischte sich kaum je in das Gespräch. Man hatte das Gefühl, als ob selbst während des wildesten Tumults in seinem struppigen und ein bißchen müden Kopf Verse und Worte sich suchten, ohne daß sie sich ganz berührten und fanden. Das Wahrhafte und Kindliche, das von diesem naiven Dichter ausging – der heute selbst in Deutschland nahezu vergessen ist –, lenkte vielleicht gefühlsmäßig meine Aufmerksamkeit von dem gewählten Vorstand der ›Kommenden‹ ab, und doch war dies ein Mann, dessen Ideen und Worte später unzähligen Menschen bei der Lebensformung entscheidend sein sollten. Hier, in Rudolf Steiner, dem später als Begründer der Anthroposophie die prachtvollsten Schulen und Akademien von seinen Anhängern zur Durchsetzung seiner Lehre gebaut wurden, begegnete ich nach Theodor Herzl zum erstenmal wieder einem Mann, dem vom Schicksal die Mission zugeteilt werden sollte, Millionen Menschen Wegweiser zu werden. Persönlich wirkte er nicht so führerhaft wie Herzl, aber mehr verführerisch. In seinen dunklen Augen wohnte eine hypnotische Kraft, und ich hörte ihm besser und kritischer zu, wenn ich nicht auf ihn blickte, denn sein asketisch-hageres, von geistiger Leidenschaft gezeichnetes Antlitz war wohl angetan, nicht nur auf Frauen überzeugend zu wirken. Rudolf Steiner war in jener Zeit noch nicht seiner eigenen Lehre nahegekommen, sondern selber noch ein Suchender und Lernender; gelegentlich trug er uns Kommentare zur Farbenlehre Goethes vor, dessen Bild in seiner Darstellung faustischer, paracelsischer wurde. Es war aufregend ihm zuzuhören, denn seine Bildung war stupend und vor allem gegenüber der unseren, die sich allein auf Literatur beschränkte, großartig vielseitig; von seinen Vorträgen und manchem guten privaten Gespräch kehrte ich immer zugleich begeistert und etwas niedergedrückt nach Hause zurück. Trotzdem – wenn ich mich heute frage, ob ich damals diesem jungen Manne eine derartige philosophische und ethische Massenwirkung prophezeit hätte, muß ich es zu meiner Beschämung verneinen. Ich habe von seinem sucherischen Geiste Großes erwartet in der Wissenschaft, und es hätte mich keineswegs verwundert, von einer großen biologischen Entdeckung zu hören, die seinem intuitiven Geiste gelungen wäre; aber als ich dann Jahre und Jahre 90
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Die Welt von Gestern Erinnerungen eines Europäers
Titel
Die Welt von Gestern
Untertitel
Erinnerungen eines Europäers
Autor
Stefan Zweig
Datum
1942
Sprache
deutsch
Lizenz
PD
Abmessungen
21.0 x 29.7 cm
Seiten
320
Schlagwörter
Biographie, Litertaur, Schriftsteller
Kategorie
Biographien

Inhaltsverzeichnis

  1. Vorwort 5
  2. Die Welt der Sicherheit 10
  3. Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
  4. Eros Matutinus 56
  5. Universitas vitae 74
  6. Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
  7. Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
  8. Über Europa hinaus 135
  9. Glanz und Schatten über Europa 145
  10. Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
  11. Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
  12. Im Herzen Europas 189
  13. Heimkehr nach Österreich 208
  14. Wieder in der Welt 224
  15. Sonnenuntergang 240
  16. Incipit Hitler 263
  17. Die Agonie des Friedens 286
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