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nach Waterloo.
Es war rasch Mittag, wir saßen schon im Speisezimmer – es lag zu ebener
Erde wie in allen belgischen Häusern –, und man sah von dem Gemach aus
durch die farbigen Scheiben auf die Straße, als plötzlich ein Schatten scharf
vor dem Fenster stehenblieb. Ein Knöchel pochte an das bunte Glas, schroff
schlug zugleich die Glocke an. »Le voilà!« sagte Frau van der Stappen und
stand auf, und er trat ein, schweren starken Schritts: Verhaeren. Auf den
ersten Blick erkannte ich das mir von den Bildern längst vertraute Gesicht.
Wie so oft war Verhaeren auch diesmal bei ihnen Hausgast, und als sie hörten,
daß ich ihn in der ganzen Gegend vergeblich gesucht, hatten sich beide mit
einem raschen Blick verständigt, mir nichts davon zu sagen, sondern mich mit
seiner Gegenwart zu überraschen. Und nun stand er mir gegenüber, lächelnd
über den gelungenen Streich, den er vernahm. Zum erstenmal fühlte ich den
festen Griff seiner nervigen Hand, zum erstenmal faßte ich seinen klaren,
gütigen Blick. Er kam – wie immer – gleichsam geladen mit Erlebnis und
Enthusiasmus ins Haus. Noch während er fest zupackte beim Essen, erzählte
er schon. Er war bei Freunden gewesen und in einer Galerie und flammte
noch ganz von dieser Stunde. Immer kam er so heim, von überall und von
allem gesteigert am zufälligen Erlebnis, und diese Begeisterung war ihm eine
heilige Gewohnheit geworden; wie eine Flamme schlug sie immer und immer
wieder von den Lippen, und wunderbar wußte er mit scharfen Gesten das
Gesprochene nachzuzeichnen. Mit dem ersten Wort griff er in die Menschen
hinein, weil er ganz aufgetan war, zugänglich jedem Neuen, nichts ablehnend,
jedem einzelnen bereit. Er warf sich gewissermaßen gleich mit seinem ganzen
Wesen aus sich heraus einem entgegen, und wie in dieser ersten Stunde selbst,
habe ich hundert- und hundertmal diesen stürmischen überwältigenden
Anprall seines Wesens an andere Menschen beglückt miterlebt. Noch wußte
er nichts von mir, und schon bot er mir Vertrauen, bloß weil er hörte, daß ich
seinem Werke nahe war.
Nach dem Mittagessen kam zur ersten guten Überraschung die zweite. Van
der Stappen, der schon lange sich und Verhaeren einen alten Wunsch erfüllen
wollte, arbeitete seit Tagen an einer Büste Verhaerens; heute sollte die letzte
Sitzung sein. Meine Gegenwart sei, sagte van der Stappen, eine freundliche
Gabe des Schicksals, denn er brauche gerade jemanden, der mit dem allzu
Unruhigen spreche, während er ihm Modell sitze, damit sich das Gesicht im
Sprechen und Hören belebe. Und so sah ich zwei Stunden lang tief in dies
Gesicht hinein, dies unvergeßliche, die hohe Stirn, schon siebenfach
durchpflügt von Falten böser Jahre, darüber rostfarbig der Sturz des braunen
Gelocks, hart das Gefüge des Gesichts und streng umspannt von bräunlicher,
windgegerbter Haut, felsig vorstoßend das Kinn und über der schmalen Lippe
groß und mächtig der hängende Vercingetorix-Schnurrbart. Die Nervosität,
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Titel
- Die Welt von Gestern
- Untertitel
- Erinnerungen eines Europäers
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1942
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 320
- Schlagwörter
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286