Seite - 96 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
Bild der Seite - 96 -
Text der Seite - 96 -
sie saß in den Händen, in diesen schmalen, griffigen, feinen und doch
kräftigen Händen, wo die Adern stark unter der dünnen Haut pochten. Die
ganze Wucht seines Willens stemmte sich vor in den breiten, bäuerischen
Schultern, für die der nervige knochige Kopf fast zu klein schien; erst wenn er
ausschritt, sah man seine Kraft. Wenn ich heute die Büste anblicke – nie ist
van der Stappen Besseres gelungen als das Werk jener Stunde –, so weiß ich
erst, wie wahr sie ist, und wie voll sie sein Wesen faßt. Sie ist Dokument einer
dichterischen Größe, das Monument einer unvergänglichen Kraft.
In diesen drei Stunden lernte ich den Menschen schon so lieben, wie ich
ihn dann mein ganzes Leben geliebt. In seinem Wesen war eine Sicherheit,
die nicht einen Augenblick selbstgefällig wirkte. Er blieb unabhängig vom
Geld, lebte lieber in einer ländlichen Existenz, statt eine Zeile zu schreiben,
die nur dem Tag und der Stunde galt. Er blieb unabhängig vom Erfolg, mühte
sich nicht, ihn durch Konzessionen und Gefälligkeiten und Camaraderie zu
mehren – ihm genügten seine Freunde und deren treue Gesinnung. Er blieb
unabhängig sogar von der gefährlichsten Versuchung eines Charakters, vom
Ruhm, als dieser endlich zu dem auf der Höhe seines Lebens Stehenden kam.
Er blieb offen in jedem Sinn, mit keiner Hemmung belastet, von keiner
Eitelkeit verwirrt, ein freier, freudiger Mensch, leicht jeder Begeisterung
hingegeben; wenn man mit ihm war, spürte man sich belebt in seinem eigenen
Willen zum Leben.
Da stand er also leibhaftig vor mir, dem jungen Menschen – der Dichter, so
wie ich ihn gewollt, so wie ich ihn geträumt. Und noch in dieser ersten Stunde
persönlicher Begegnung war mein Entschluß gefaßt: diesem Manne und
seinem Werk zu dienen. Es war ein wirklich verwegener Entschluß, denn
dieser Hymniker Europas war damals in Europa noch wenig bekannt, und ich
wußte im voraus, daß die Übertragung seines monumentalen Gedichtwerks
und seiner drei Versdramen meiner eigenen Produktion zwei oder drei Jahre
wegnehmen würde. Aber indem ich mich entschloß, meine ganze Kraft, Zeit
und Leidenschaft dem Dienst an einem fremden Werke zu geben, gab ich mir
selbst das Beste: eine moralische Aufgabe. Mein ungewisses Suchen und
Versuchen hatte jetzt einen Sinn. Und wenn ich heute einen jungen
Schriftsteller beraten sollte, der noch seines Weges ungewiß ist, würde ich ihn
zu bestimmen suchen, zuerst einem größeren Werke als Darsteller oder
Übertragender zu dienen. In allem aufopfernden Dienen ist für einen
Beginnenden mehr Sicherheit als im eigenen Schaffen, und nichts, was man
jemals hingebungsvoll geleistet, ist vergebens getan.
In diesen zwei Jahren, die ich fast ausschließlich daran wandte, die
Gedichtwerke Verhaerens zu übertragen und ein biographisches Buch über
96
Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Titel
- Die Welt von Gestern
- Untertitel
- Erinnerungen eines Europäers
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1942
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 320
- Schlagwörter
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286