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ihn vorzubereiten, bin ich zwischendurch viel gereist, zum Teil auch, um
öffentliche Vorträge zu halten. Und schon hatte ich einen unerwarteten Dank
für die scheinbar undankbare Hingabe an das Werk Verhaerens; seine Freunde
im Ausland wurden auf mich aufmerksam und bald auch meine Freunde. So
kam eines Tages Ellen Key zu mir, diese wundervolle schwedische Frau, die
mit einer Kühnheit ohnegleichen in jenen noch borniert widerstrebenden
Zeiten für die Emanzipation der Frauen gekämpft und in ihrem Buch ›Das
Jahrhundert des Kindes‹ lange vor Freud die seelische Verwundbarkeit der
Jugend warnend gezeigt; durch sie wurde ich in Italien bei Giovanni Cena
und seinem dichterischen Kreise eingeführt und gewann in dem Norweger
Johan Bojer einen bedeutenden Freund. Georg Brandes, der internationale
Meister der Literaturgeschichte, wandte mir sein Interesse zu, und bald
begann in Deutschland dank meiner Werbung der Name Verhaerens schon
bekannter zu sein als in seinem Vaterland. Kainz, der größte Schauspieler, und
Moissi rezitierten öffentlich seine Gedichte in meiner Übertragung. Max
Reinhardt brachte Verhaerens ›Kloster‹ auf die deutsche Bühne: ich durfte
zufrieden sein.
Aber nun war es eigentlich Zeit, mich zu erinnern, daß ich noch eine andere
Verpflichtung übernommen hatte als die gegen Verhaeren. Ich hatte endlich
meine Universitätskarriere abzuschließen und den philosophischen Doktorhut
heimzubringen. Jetzt hieß es, in ein paar Monaten den ganzen scholastischen
Stoff aufzuarbeiten, an dem die solideren Studenten fast vier Jahre gewürgt:
mit Erwin Guido Kolbenheyer, einem literarischen Jugendfreund, der heute
daran vielleicht nicht gerne erinnert wird, weil er einer der offiziellen Dichter
und Akademiker Hitlerdeutschlands geworden ist, büffelte ich die Nächte
durch. Aber man machte mir die Prüfung nicht schwer. Der gütige Professor,
der aus meiner öffentlichen literarischen Tätigkeit zuviel von mir wußte, um
mich mit Kleinkram zu vexieren, sagte mir in einer privaten Vorbesprechung
lächelnd: »Exakte Logik wollen Sie doch lieber nicht geprüft werden«, und
führte mich dann in der Tat sachte auf die Gebiete, in denen er mich sicher
wußte. Es war das erste Mal, daß ich eine Prüfung mit Auszeichnung bestand
und, wie ich hoffe, auch das letzte Mal. Nun war ich äußerlich frei, und alle
die Jahre bis auf den heutigen Tag haben nur dem – in unseren Zeiten immer
härter werdenden – Kampf gegolten, innerlich ebenso frei zu bleiben.
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Titel
- Die Welt von Gestern
- Untertitel
- Erinnerungen eines Europäers
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1942
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 320
- Schlagwörter
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286