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Trattorien und witzig spotteten über das schlimme ›governo‹, indes sie jetzt
düster marschieren müssen mit emporgestoßenem Kinn und verdrossenem
Herzen. Kann man sich noch einen Österreicher denken, so lax und locker in
seiner Gutmütigkeit, so fromm-gläubig seinem kaiserlichen Herrn vertrauend
und dem Gott, der das Leben ihnen so behaglich gemacht? Die Russen, die
Deutschen, die Spanier, sie alle, sie alle wissen nicht mehr, wieviel an Freiheit
und Freude der herzlos gefräßige Popanz des ›Staates‹ ihnen aus dem Mark
der innersten Seele gesogen. Alle Völker fühlen nur, daß ein fremder Schatten
breit und schwer über ihrem Leben hängt. Wir aber, die wir noch die Welt der
individuellen Freiheit gekannt, wir wissen und können es bezeugen, daß
Europa sich einstmals sorglos freute seines kaleidoskopischen Farbenspiels.
Und wir erschauern, wie verschattet, verdunkelt, versklavt und verkerkert
unsere Welt dank ihrer selbstmörderischen Wut geworden ist.
Aber doch, nirgends und nirgends hat man die naive und zugleich
wunderbar weise Unbekümmertheit des Daseins beglückter empfinden
können als in Paris, wo sie durch Schönheit der Formen, durch Milde des
Klimas, durch Reichtum und Tradition glorreich bestätigt war. Jeder von uns
jungen Menschen nahm ein Teil dieser Leichtigkeit in sich auf und tat
dadurch sein eigenes Teil hinzu; Chinesen und Skandinavier, Spanier und
Griechen, Brasilianer und Kanadier, jeder fühlte sich an der Seine zu Hause.
Es gab keinen Zwang, man konnte sprechen, denken, lachen, schimpfen, wie
man wollte, jeder lebte, wie es ihm gefiel, gesellig oder allein,
verschwenderisch oder sparsam, luxuriös oder bohèmehaft, es war für jede
Sonderheit Raum und gesorgt für alle Möglichkeiten. Da waren die sublimen
Restaurants mit allen kulinarischen Zaubereien und Weinsorten zu
zweihundert oder dreihundert Francs, mit sündhaft teuren Cognacs aus den
Tagen von Marengo und Waterloo; aber man konnte fast ebenso prächtig
essen und pokulieren bei jedem Marchand de Vin um die nächste Ecke. In den
vollgedrängten Studentenrestaurants des Quartier Latin bekam man für ein
paar Sous die leckersten Nichtigkeiten vor und nach seinem saftigen
Beefsteak und noch dazu roten oder weißen Wein und eine baumlange Stange
köstlichen Weißbrots. Man konnte gekleidet sein, wie es einem beliebte; die
Studenten promenierten mit ihren koketten Baretts über den Boulevard Saint-
Michel, die ›rapins‹ wiederum, die Maler, machten sich pastos mit breiten
Riesenpilzen von Hüten und romantischen, schwarzen Samtjacken, die
Arbeiter wanderten unbesorgt in ihren blauen Blusen oder hemdärmelig über
den vornehmsten Boulevard, die Ammen in ihren breitgefältelten
bretonischen Hauben, die Weinschenker in ihren blauen Schürzen. Es mußte
ja nicht gerade der Vierzehnte Juli sein, daß nach Mitternacht ein paar junge
Paare auf der Straße zu tanzen begannen, und der Polizist lachte dazu: die
Straße gehörte doch jedem! Niemand genierte sich vor niemandem; die
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Titel
- Die Welt von Gestern
- Untertitel
- Erinnerungen eines Europäers
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1942
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 320
- Schlagwörter
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286