Seite - 100 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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hübschesten Mädchen schämten sich nicht, mit einem pechschwarzen Neger
Arm in Arm und ins nächste petit hôtel zu gehen – wer kümmerte sich in
Paris um solche später erst aufgeblasene Popanze wie Rasse, Klasse und
Herkunft? Man ging, man sprach, man schlief mit dem oder der, die einem
gefielen, und kümmerte sich sieben Teufel um die andern. Ach, man mußte
zuvor Berlin gekannt haben, um Paris recht zu lieben, mußte die freiwillige
Servilität Deutschlands mit seinem kantigen und schmerzhaft scharf
zugeschliffenem Standesbewußtsein erlebt haben, wo die Offiziersfrau nicht
mit der Lehrersfrau und diese nicht mit der Kaufmannsmadame und diese
schon gar nicht mit der Arbeiterfrau ›verkehrte‹. In Paris aber ging das
Vermächtnis der Revolution noch lebendig im Blute um; der proletarische
Arbeiter fühlte sich ebenso als freier und vollwichtiger Bürger wie sein
Brotgeber, der Kellner schüttelte im Café dem galonierten General kollegial
die Hand, fleißige, solide, saubere Kleinbürgersfrauen rümpften nicht die
Nase über die Prostituierte auf demselben Gang, sondern schwatzten täglich
mit ihr auf der Treppe, und ihre Kinder schenkten ihr Blumen. Einmal sah ich,
wie in ein vornehmes Restaurant – Larue bei der Madeleine – von einer Taufe
reiche normannische Bauern kamen; sie donnerten mit schweren Schuhen wie
mit Hufen in der Tracht ihres Dorfes herein, das Haar so dick pomadisiert,
daß man’s bis in die Küche roch. Sie redeten laut und wurden immer lauter, je
mehr sie tranken, und stupften ungeniert lachend ihren dicken Frauen in die
Hüften. Es störte sie nicht im mindesten, als richtige Bauern zwischen
blanken Fräcken und großen Toiletten zu sitzen, aber auch der spiegelblank
rasierte Kellner rümpfte nicht die Nase, wie er’s in Deutschland oder England
bei so dörfischen Gästen getan hätte, sondern servierte ihnen ebenso höflich
und tadellos wie den Ministern oder Exzellenzen, und dem Maître d’Hôtel
machte es sogar Spaß, die etwas burschikosen Gäste besonders herzlich zu
begrüßen. Paris kannte nur ein Nebeneinander der Gegensätze, kein Oben und
Unten; zwischen den Luxusstraßen und den schmutzigen Durchlässen
daneben lief keine sichtbare Grenze, und überall ging es gleich belebt und
heiter zu. In den Höfen der Vorstadt musizierten die Straßenmusikanten, von
den Fenstern hörte man die Midinettes bei der Arbeit singen; immer lag
irgendwo ein Lachen in der Luft oder ein gutmütig freundlicher Zuruf. Wenn
da und dort zwei Kutscher einander ›engueulierten‹, schüttelten sie sich
nachher die Hände, tranken ein Glas Wein zusammen und knackten dazu ein
paar der – spottbilligen – Austern auf. Nichts war schwierig oder steif. Die
Beziehungen zu Frauen knüpften sich leicht an und lösten sich leicht, jeder
Topf fand seinen Deckel, jeder junge Mensch eine fröhliche und nicht durch
Prüderie gehemmte Freundin. Ach, was lebte man schwerelos, lebte man gut
in Paris und insbesondre, wenn man jung war! Schon das bloße Flanieren war
eine Lust und zugleich eine ständige Lektion, denn alles stand jedem offen –
und man konnte bei einem Bouquinisten eintreten und eine Viertelstunde in
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Titel
- Die Welt von Gestern
- Untertitel
- Erinnerungen eines Europäers
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1942
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 320
- Schlagwörter
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286