Seite - 101 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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den Büchern blättern, ohne daß der Händler knurrte und murrte. Man konnte
in die kleinen Galerien gehen und in den Bric-à-Brac-Geschäften alles
umständlich gustieren, konnte im Hotel Drouot bei den Versteigerungen
schmarotzen und in den Gärten mit den Gouvernanten plaudern; es war nicht
leicht, innezuhalten, wenn man einmal ins Bummeln gekommen war, die
Straße zog einen magnetisch mit und zeigte kaleidoskopisch unablässig etwas
Neues. War man müde, so konnte man auf der Terrasse eines der zehntausend
Kaffeehäuser sitzen und Briefe schreiben auf dem unentgeltlich gegebenen
Briefpapier und dabei von den Straßenverkäufern sich ihren ganzen Kram von
Narrheit und Überflüssigkeit explizieren lassen. Schwer war nur eines: zu
Hause zu bleiben oder nach Hause zu gehen, besonders, wenn der Frühling
ausbrach, das Licht silbern und weich über der Seine glänzte, die Bäume auf
den Boulevards sich grün zu buschen begannen und die jungen Mädchen
jedes ihr Veilchensträußchen für einen Sou angesteckt trugen; aber es mußte
wahrhaftig nicht gerade Frühling sein, damit man in Paris guter Laune war.
Die Stadt war zur Zeit, da ich sie kennenlernte, noch nicht so völlig zu
einer Einheit zusammengeschmolzen wie heute dank der Untergrundbahnen
und Automobile; noch regierten hauptsächlich die mächtigen, von schweren,
dampfenden Pferden gezogenen Omnibusse den Verkehr. Allerdings,
bequemer war Paris kaum zu entdecken als vom ›Imperial‹, vom ersten Stock
dieser breiten Karossen oder aus den offenen Droschken, die ebenfalls nicht
allzu hitzig fuhren. Aber von Montmartre nach Montparnasse war es damals
immerhin noch eine kleine Reise, und ich hielt im Hinblick auf die
Sparsamkeit der Pariser Kleinbürger die Legende durchaus für glaubhaft, daß
es noch Pariser der rive droite gebe, die nie auf der rive gauche gewesen
seien, und Kinder, die einzig im Luxembourg-Garten gespielt und nie den
Tuileriengarten oder Parc Monceau gesehen. Der richtige Bürger oder
Concierge blieb gerne chez soi, in seinem Quartier; er schuf sich innerhalb
von Großparis sein kleines Paris, und jedes dieser Arrondissements trug
darum noch seinendeutlichen und sogar provinzartigen Charakter. So
bedeutete es für einen Fremden einen gewissen Entschluß, zu wählen, wo er
seine Zelte aufschlagen sollte. Das Quartier Latin lockte mich nicht mehr.
Dorthin war ich bei einem früheren kurzen Besuch als Zwanzigjähriger gleich
von der Bahn aus gestürzt; am ersten Abend schon hatte ich im Café Vachette
gesessen und mir ehrfürchtig den Platz Verlaines zeigen lassen und den
Marmortisch, auf den er in der Trunkenheit immer mit seinem schweren
Stock zornig hieb, um sich Respekt zu verschaffen. Ihm zu Ehren hatte ich
unalkoholischer Akoluth ein Glas Absinth getrunken, obwohl dies grünliche
Gebräu mir gar nicht mundete, aber ich glaubte als junger, ehrfürchtiger
Mensch mich verpflichtet, im Quartier Latin mich an das Ritual der lyrischen
Dichter Frankreichs halten zu müssen; am liebsten hätte ich damals aus
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Titel
- Die Welt von Gestern
- Untertitel
- Erinnerungen eines Europäers
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1942
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 320
- Schlagwörter
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286