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Stilgefühl im fünften Stock in einer Mansarde bei der Sorbonne gewohnt, um
die ›richtige‹ Quartier-Latin-Stimmung, wie ich sie aus den Büchern kannte,
getreulicher mitleben zu können. Mit fünfundzwanzig Jahren dagegen
empfand ich nicht mehr so naiv romantisch, das Studentenviertel schien mir
zu international, zu unpariserisch. Und vor allem wollte ich mir mein
dauerndes Quartier schon nicht mehr nach literarischen Reminiszenzen
wählen, sondern um möglichst gut meine eigene Arbeit zu tun. Ich blickte
mich sogleich um. Das elegante Paris, die Champs Elysées, boten in diesem
Sinne nicht die geringste Eignung, noch weniger das Quartier um das Café de
la Paix, wo alle reichen Fremden des Balkans sich Rendezvous gaben und
außer den Kellnern niemand französisch sprach. Eher hatte die stille, von
Kirchen und Klöstern umschattete Sphäre von Saint Sulpice, wo auch Rilke
und Suarez gerne wohnten, für mich Reiz; am liebsten hätte ich auf der Isle
St. Louis Hausung genommen, um gleicherweise beiden Seiten von Paris, der
rive droite und rive gauche, verbunden zu sein. Aber im Spazierengehen
gelang es mir, gleich in der ersten Woche etwas noch Schöneres zu finden.
Durch die Galerien des Palais schlendernd, entdeckte ich, daß unter den im
achtzehnten Jahrhundert von Prince Egalité ebenmäßig gebauten Häusern
dieses riesigen Carrés ein einziges einstmals vornehmes Palais zu einem
kleinen, etwas primitiven Hotel herabgekommen war. Ich ließ mir eines der
Zimmer zeigen und merkte entzückt, daß der Blick vom Fenster in den Garten
des Palais Royal hinausging, der mit Einbruch der Dunkelheit geschlossen
wurde. Nur das leise Brausen der Stadt hörte man dann undeutlich und
rhythmisch wie einen ruhelosen Wogenschlag an eine ferne Küste, im
Mondlicht leuchteten die Statuen, und in den ersten Morgenstunden trug
manchmal der Wind von den nahen ›Halles‹ einen würzigen Duft von
Gemüse her. In diesem historischen Geviert des Palais Royal hatten die
Dichter, die Staatsmänner des achtzehnten, des neunzehnten Jahrhunderts
gewohnt, quer gegenüber war das Haus, wo Balzac und Victor Hugo so oft
die hundert engen Stufen bis zur Mansarde der von mir so geliebten Dichterin
Marceline Desbordes-Valmore emporgestiegen waren, dort leuchtete
marmorn die Stelle, wo Camille Desmoulins das Volk zum Sturm auf die
Bastille aufgerufen, dort war der gedeckte Gang, wo der arme kleine Leutnant
Bonaparte sich unter den promenierenden, nicht sehr tugendhaften Damen
eine Gönnerin gesucht. Die Geschichte Frankreichs sprach hier aus jedem
Stein; außerdem lag nur eine Straße weit die Nationalbibliothek, wo ich
meine Vormittage verbrachte, und nahe auch das Louvremuseum mit seinen
Bildern, die Boulevards mit ihrem menschlichen Geström; ich war endlich
dort, wohin ich mich gewünscht, dort, wo seit Jahrhunderten heiß und
rhythmisch der Herzschlag Frankreichs ging, im innersten Paris. Ich erinnere
mich, wie André Gide mich einmal besuchte und, über diese Stille mitten im
Herzen von Paris staunend, sagte: »Von den Ausländern müssen wir die
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Titel
- Die Welt von Gestern
- Untertitel
- Erinnerungen eines Europäers
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1942
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 320
- Schlagwörter
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286