Seite - 103 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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schönsten Stellen unserer eigenen Stadt uns zeigen lassen.« Und wirklich, ich
hätte nichts Pariserischeres und zugleich Abgeschiedeneres finden können als
dieses romantische Studierzimmer im innersten Bannkreis der lebendigsten
Stadt der Welt.
Was streifte ich damals durch die Straßen, wieviel sah, wieviel suchte ich in
meiner Ungeduld! Denn ich wollte doch nicht nur das eine Paris von 1904
erleben; ich suchte mit den Sinnen, mit dem Herzen auch das Paris von Henri
IV. und Louis XIV. und das Napoleons und der Revolution, das Paris Rétif de
la Bretonnes und Balzacs, Zolas und Charles Louis Philippes mit all seinen
Straßen, Gestalten und Geschehnissen. Überzeugend empfand ich hier wie
immer in Frankreich, wieviel eine große und dem Wahrhaften zugewandte
Literatur ihrem Volke an verewigender Kraft zurückgibt, denn alles in Paris
war mir eigentlich durch die darstellende Kunst der Dichter, der Romanciers,
der Historiker, der Sittenschilderer geistig im voraus vertraut gewesen, ehe
ich es mit eigenen Augen gesehen. Es verlebendigte sich nur in der
Begegnung, das physische Schauen wurde eigentlich Wiedererkennen, jene
Lust der griechischen ›Anagnosis‹, die Aristoteles als die größte und
geheimnisvollste alles künstlerischen Genießens rühmt. Aber doch: in seinem
Letzten, seinem Verborgensten erkennt man ein Volk oder eine Stadt nie
durch Bücher und selbst nicht durch fleißigstes Flanieren, sondern immer nur
durch seine besten Menschen. Einzig aus geistiger Freundschaft mit den
Lebenden gewinnt man Einblick in die wirklichen Zusammenhänge zwischen
Volk und Land; alles Beobachten von außen bleibt ein unechtes und voreiliges
Bild.
Solche Freundschaften waren mir gegeben und die beste mit Léon
Bazalgette. Dank meiner engen Beziehung zu Verhaeren, den ich jede Woche
zweimal in St. Cloud besuchte, war ich davor behütet worden, wie die
meisten Ausländer in den windigen Kreis der internationalen Maler und
Literaten zu geraten, die das Café du Dôme bevölkerten und im Grunde
dieselben blieben hier oder dort, in München, Rom und Berlin. Mit Verhaeren
dagegen ging ich zu den Malern, den Dichtern, die inmitten dieser
schwelgerischen und temperamentvollen Stadt jeder in seiner schöpferischen
Stille wie auf einer einsamen Insel der Arbeit lebten, ich sah noch das Atelier
Renoirs und die besten seiner Schüler. Äußerlich war die Existenz dieser
Impressionisten, deren Werke man heute mit Zehntausenden von Dollars
bezahlt, in nichts unterschieden von der des Kleinbürgers und Rentners;
irgendein kleines Häuschen mit einem angebauten Atelier, keine
›Aufmachung‹, wie sie in München Lenbach und die anderen Berühmtheiten
mit ihren imitiert pompejanischen Luxusvillen zur Schau trugen. Ebenso
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Titel
- Die Welt von Gestern
- Untertitel
- Erinnerungen eines Europäers
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1942
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 320
- Schlagwörter
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286