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einfach wie die Maler lebten die Dichter, mit denen ich bald persönlich
vertraut wurde. Sie hatten meist kleinere Staatsämter inne, in denen es wenig
positive Arbeit gab; die große Achtung für geistige Leistung, die in
Frankreich von den untersten bis zu den höchsten Stellen reichte, hatte seit
Jahren schon die kluge Methode gezeitigt, Dichtern und Schriftstellern, die
nicht hohe Erträgnisse aus ihrer Arbeit zogen, unauffällige Sinekuren zu
verleihen; man ernannte sie zum Beispiel zu Bibliothekaren im
Marineministerium oder im Senat. Das gab ein kleines Gehalt und nur wenig
Arbeit, denn die Senatoren verlangten nur höchst selten ein Buch, und so
konnte der glückliche Besitzer solch einer Pfründe in dem stilvollen, alten
Senatspalais mit dem Luxembourg-Garten vor dem Fenster still und behaglich
innerhalb der Amtsstunden seine Verse schreiben, ohne je an Honorar denken
zu müssen. Und diese bescheidene Sicherung war ihnen genug. Andere waren
Ärzte wie später Duhamel und Durtain, hatten einen kleinen Bilderladen wie
Charles Vildrac oder waren Gymnasialprofessoren wie Romains und Jean
Richard Bloch, sie saßen ihre Stunden in der Agence Havas ab wie Paul
Valéry oder halfen bei Verlegern. Aber keiner hatte die Prätention wie ihre
Nachfahren, die, vom Film und hohen Auflagen verdorben, auf eine erste
künstlerische Neigung hin sofort selbstherrlich eine Existenz zu gründen
versuchen. Was diese Dichter wollten von diesen kleinen, ohne Ehrgeiz
aufgesuchten Berufen, war nichts als das bißchen Sicherheit für das äußere
Leben, das ihnen Unabhängigkeit für das innere Werk verbürgte. Dank dieser
Sicherung konnten sie an den großen korrupten Pariser Tageszeitungen
achtlos vorbeisehen, ohne jedes Honorar für ihre kleinen, immer nur mit
persönlichen Opfern aufrechterhaltenen Revuen schreiben und es ruhig
hinnehmen, daß man ihre Stücke nur in kleinen literarischen Theatern spielte
und daß ihre Namen anfangs nur im eigenen Kreise bekannt blieben: von
Claudel, von Péguy, von Rolland, von Suarez, von Valéry hat jahrzehntelang
nur eine winzige Elite gewußt. Als die einzigen inmitten der hastigen und
geschäftigen Stadt hatten sie keine Eile. Still zu leben, still zu arbeiten für
einen stillen Kreis jenseits der ›foir sur la place‹ war für sie wichtiger als sich
vorzudrängen, und sie schämten sich nicht, kleinbürgerlich und eng zu leben,
um dafür im Künstlerischen frei und kühn zu denken. Ihre Frauen kochten
und führten die Wirtschaft; es ging einfach und darum um so herzlicher zu bei
diesen kameradschaftlichen Abenden. Man saß auf billigen Strohsesseln um
einen mit kariertem Tuch lässig bedeckten Tisch – nicht vornehmer als bei
dem Monteur auf derselben Etage, aber man fühlte sich frei und ungehemmt.
Sie hatten keine Telephone, keine Schreibmaschinen, keine Sekretäre,
sie vermieden alles technische Gerät ebenso wie den geistigen Apparat der
Propaganda, sie schrieben wie vor tausend Jahren ihre Bücher mit der Hand,
und selbst in den großen Verlagen wie dem ›Mercure de France‹ gab es kein
Diktat und keinen komplizierten Apparat. Nichts war nach außen, für Prestige
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Titel
- Die Welt von Gestern
- Untertitel
- Erinnerungen eines Europäers
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1942
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 320
- Schlagwörter
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286