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Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
Seite - 108 -
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zeugt sie wieder, wie sie sie von je gezeugt.« Wieder und wieder werden in begnadeter Wiederkehr solche Dichter erstehen, denn immer verleiht von Weile zu Weile die Unsterblichkeit dies kostbare Unterpfand auch der unwürdigsten Zeit. Aber ist nicht gerade die unsere eine, die auch dem Reinsten, dem Abseitigsten keine Stille erlaubt, jene Stille des Wartens und Reifens und Sinnens und Sich-Sammelns, wie sie jenen noch vergönnt war in der gütigeren und gelasseneren Zeit der europäischen Vorkriegswelt? Ich weiß nicht, wieviel alle diese Dichter, Valéry, Verhaeren, Rilke, Pascoli, Francis Jammes, heute noch gelten, wieviel sie einer Generation sind, der statt dieser zarten Musik durch Jahre und Jahre das klappernde Mühlrad der Propaganda und zweimal der Donner der Kanonen die Ohren durchdröhnt. Ich weiß nur und fühle die Pflicht, es dankbar auszusagen, welch eine Lehre, welch eine Beglückung die Gegenwart solcher heilig der Perfektion Verschworenen inmitten einer schon sich mechanisierenden Welt für uns gewesen ist. Und rückschauend auf mein Leben, gewahre ich kaum bedeutsameren Besitz, als daß es mir erlaubt war, manchem von ihnen menschlich nahe zu sein und daß mehrfach an meine frühe Verehrung dauernde Freundschaft sich binden durfte. Von allen diesen hat vielleicht keiner leiser, geheimnisvoller, unsichtbarer gelebt als Rilke. Aber es war keine gewollte, keine forcierte oder priesterlich drapierte Einsamkeit wie etwa Stefan George sie in Deutschland zelebrierte; die Stille wuchs gewissermaßen um ihn, wohin er ging und wo er sich befand. Da er jedem Lärm und sogar seinem Ruhm auswich – dieser ›Summe aller Mißverständnisse, die sich um seinen Namen sammeln‹, wie er einmal so schön sagte –, netzte die eitel anstürmende Woge der Neugier nur seinen Namen und nie seine Person. Rilke war schwer zu erreichen. Er hatte kein Haus, keine Adresse, wo man ihn suchen konnte, kein Heim, keine ständige Wohnung, kein Amt. Immer war er am Wege durch die Welt, und niemand, nicht einmal er selbst, wußte im voraus, wohin er sich wenden würde. Für seine unermeßlich sensible und druckempfindliche Seele war jeder starre Entschluß, jedes Planen und jede Ankündigung schon Beschwerung. So ergab es sich immer nur durch Zufall, wenn man ihm begegnete. Man stand in einer italienischen Galerie und spürte, ohne recht gewahr zu werden, von wem es kam, ein leises, freundliches Lächeln einem entgegen. Dann erst erkannte man seine blauen Augen, die, wenn sie einen anblickten, seine an sich eigentlich unauffälligen Züge mit ihrem inneren Licht beseelten. Aber gerade diese Unauffälligkeit war das tiefste Geheimnis seines Wesens. Tausende Menschen mögen vorübergegangen sein an diesem jungen Manne mit dem leicht melancholisch niederhängenden, blonden Schnurrbart und den durch keine Linie besonders bemerkenswerten, ein wenig slawischen Gesichtsformen, ohne zu ahnen, daß dies ein Dichter und einer der größten 108
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Die Welt von Gestern Erinnerungen eines Europäers
Titel
Die Welt von Gestern
Untertitel
Erinnerungen eines Europäers
Autor
Stefan Zweig
Datum
1942
Sprache
deutsch
Lizenz
PD
Abmessungen
21.0 x 29.7 cm
Seiten
320
Schlagwörter
Biographie, Litertaur, Schriftsteller
Kategorie
Biographien

Inhaltsverzeichnis

  1. Vorwort 5
  2. Die Welt der Sicherheit 10
  3. Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
  4. Eros Matutinus 56
  5. Universitas vitae 74
  6. Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
  7. Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
  8. Über Europa hinaus 135
  9. Glanz und Schatten über Europa 145
  10. Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
  11. Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
  12. Im Herzen Europas 189
  13. Heimkehr nach Österreich 208
  14. Wieder in der Welt 224
  15. Sonnenuntergang 240
  16. Incipit Hitler 263
  17. Die Agonie des Friedens 286
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