Seite - 109 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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unseres Jahrhunderts war; seine Besonderheit wurde erst in näherem Umgang
offenbar: die ungemeine Verhaltenheit seines Wesens. Er hatte eine
unbeschreibbar leise Art des Kommens, des Sprechens. Wenn er in ein
Zimmer eintrat, wo eine Gesellschaft versammelt war, geschah es dermaßen
lautlos, daß kaum jemand ihn bemerkte. Still lauschend saß er dann, hob
manchmal unwillkürlich die Stirn, sobald ihn etwas zu beschäftigen schien,
und wenn er selbst zu sprechen begann, so immer ohne jede Affektation oder
heftige Betonung. Er erzählte natürlich und einfach, wie eine Mutter ihrem
Kind ein Märchen erzählt und genauso liebevoll; es war wunderbar, ihm
zuzuhören, wie bildhaft und bedeutend auch das gleichgültigste Thema sich
ihm formte. Aber kaum spürte er, daß er in einem größeren Kreise der
Mittelpunkt der Aufmerksamkeit wurde, brach er ab und senkte sich wieder in
sein schweigsames, aufmerksames Lauschen zurück. In jeder Bewegung, in
jeder Geste war dies Leise; selbst wenn er lachte, war es bloß mit einem
gerade nur andeutenden Ton. Sordiniertheit war ihm Bedürfnis, und nichts
konnte ihn darum dermaßen verstören wie Lärm und im Raum des Gefühls
jede Vehemenz. »Sie erschöpfen mich, diese Menschen, die ihre
Empfindungen wie Blut ausspeien«, sagte er mir einmal, »und Russen nehme
ich darum nur mehr wie Likör in ganz kleinen Dosen zu mir.« Nicht minder
als Gemessenheit im Betragen, waren ihm Ordnung, Sauberkeit und Stille
geradezu physische Bedürfnisse; in einer überfüllten Trambahn fahren zu
müssen, in einem lärmenden Lokal zu sitzen, verstörte ihn für Stunden. Alles
Vulgäre war ihm unerträglich, und obwohl er in engen Verhältnissen lebte,
zeigte seine Kleidung immer ein Summum von Sorgfalt, Sauberkeit und
Geschmack. Sie war gleichfalls ein durchdachtes, ein durchdichtetes
Meisterwerk der Unauffälligkeit, und immer doch mit einer unscheinbaren,
ganz persönlichen Note, einem kleinen Nebenbei, an dem er sich heimlich
freute, etwa einem dünnen silbernen Armbändchen um das Handgelenk. Denn
bis in das Intimste und Persönlichste ging sein ästhetischer Sinn für
Vollendung und Symmetrie. Einmal sah ich ihm in seiner Wohnung vor der
Abreise zu – er lehnte meine Hilfe mit Recht als unzuständig ab –, wie er
seinen Koffer packte. Es war ein Mosaiklegen, jedes einzelne Stück beinahe
zärtlich in den sorgfältig ausgesparten Raum eingesenkt; ich hätte es als
Frevel empfunden, dieses blumenhafte Beisammensein durch einen helfenden
Handgriff zu zerstören. Und dieser sein elementarer Schönheitssinn begleitete
ihn bis ins nebensächlichste Detail; nicht nur, daß er seine Manuskripte
sorgfältig auf schönstem Papier mit seiner kalligraphisch runden Hand
schrieb, daß wie nachgemessen mit dem Zollstab jede Zeile zur andern in
gleicher Schwebe stand: auch für den gleichgültigsten Brief wählte er
erlesenes Papier, und regelmäßig, rein und rund ging seine kalligraphische
Schrift hart heran bis an das Spatium. Niemals erlaubte er sich, selbst in der
hastigsten Mitteilung, ein durchgestrichenes Wort, sondern immer schrieb er,
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Titel
- Die Welt von Gestern
- Untertitel
- Erinnerungen eines Europäers
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1942
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 320
- Schlagwörter
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286