Seite - 111 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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vielleicht geschenkt von Frauen, vielleicht von ihm selber zärtlich
heimgebracht. Immer leuchteten Bücher an der Wand, schön gebunden oder
in Papier sorgsam eingeschlagen, denn er liebte Bücher wie stumme Tiere.
Auf dem Schreibtisch lagen die Bleistifte und Federn in kerzengerader Linie,
die Bogen des unbeschriebenen Papiers zu einem Rechteck gereiht; eine
russische Ikone, ein katholisches Kruzifix, die ihn, glaube ich, auf allen
seinen Reisen begleitet haben, gaben der Arbeitsstelle einen leicht religiösen
Charakter, obwohl seine Religiosität an kein bestimmtes Dogma gebunden
war. Jeder Einzelheit spürte man an, daß sie sorgsam gewählt und zärtlich
behütet war. Lieh man ihm ein Buch, das er nicht kannte, so bekam man es
zurück, in Seidenpapier faltenlos eingeschlagen und wie ein Festgeschenk mit
buntem Bande verschnürt; ich erinnere mich noch, wie er mir als kostbare
Gabe das Manuskript der ›Weise von Liebe und Tod‹ in mein Zimmer
brachte, und bewahre noch heute das Band, das es umhüllte. Aber am
schönsten war es, mit Rilke in Paris spazierenzugehen, denn das hieß, auch
das Unscheinbarste bedeutsam und mit gleichsam erhelltem Auge sehen; er
bemerkte jede Kleinigkeit, und selbst die Namen der Firmenschilder sprach
er, wenn sie ihm rhythmisch zu klingen schienen, gerne sich laut vor; diese
eine Stadt Paris bis in ihre letzten Winkel und Tiefen zu kennen, war für ihn
Leidenschaft, fast die einzige, die ich je an ihm wahrgenommen. Einmal, als
wir uns bei gemeinsamen Freunden begegneten, erzählte ich ihm, ich sei
gestern durch Zufall an die alte ›Barrière‹ gelangt, wo am Cimetière de Picpus
die letzten Opfer der Guillotine eingescharrt worden waren, unter ihnen
André Chenier; ich beschrieb ihm diese kleine rührende Wiese mit ihren
verstreuten Gräbern, die selten Fremde sieht, und wie ich dann auf dem
Rückweg in einer der Straßen durch eine offene Tür ein Kloster mit einer Art
Beginen erblickt, die still, ohne zu sprechen, den Rosenkranz in der Hand,
wie in einem frommen Traum im Kreis gewandelt. Es war eines der wenigen
Male, wo ich ihn beinahe ungeduldig sah, diesen so leisen, beherrschten
Mann: er müsse das sehen, das Grab André Cheniers und das Kloster. Ob ich
ihn hinführen wolle. Wir gingen gleich am nächsten Tage. Er stand in einer
Art verzückter Stille vor diesem einsamen Friedhof und nannte ihn ›den
lyrischsten von Paris‹. Aber auf dem Rückweg erwies sich die Tür jenes
Klosters als verschlossen. Da konnte ich nun seine stille Geduld erproben, die
er im Leben nicht minder als in seinen Werken meisterte. »Warten wir auf den
Zufall«, sagte er. Und mit leicht gesenktem Haupt stellte er sich so, daß er
durch die Pforte schauen konnte, wenn sie sich öffnete. Wir
warteten vielleicht zwanzig Minuten. Dann kam die Straße entlang eine
Ordensschwester und klingelte. »Jetzt«, hauchte er leise und erregt. Aber die
Schwester hatte sein stilles Lauschen bemerkt – ich sagte ja, daß man alles an
ihm von ferne atmosphärisch fühlte –, trat auf ihn zu und fragte, ob er
jemanden erwarte. Er lächelte sie an mit diesem seinem weichen Lächeln, das
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Titel
- Die Welt von Gestern
- Untertitel
- Erinnerungen eines Europäers
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1942
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 320
- Schlagwörter
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286