Seite - 112 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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sofort Zutrauen schuf, und sagte offenherzig, er hätte so gerne den
Klostergang gesehen. Es tue ihr leid, lächelte nun ihrerseits die Schwester,
aber sie dürfe ihn nicht einlassen. Jedoch riet sie ihm, zum Häuschen des
Gärtners nebenan zu gehen, von dessen Fenster im Oberstock habe er einen
guten Blick. Und so ward auch dies ihm wie so vieles gegeben.
Mehrmals haben sich noch unsere Wege gekreuzt, aber wann immer ich an
Rilke denke, sehe ich ihn in Paris, dessen traurigste Stunde zu erleben ihm
erspart geblieben ist.
Menschen dieser seltenen Art waren ein großer Gewinn für einen
Beginnenden; aber die entscheidende Lehre hatte ich noch zu empfangen,
eine, die für das ganze Leben gelten sollte. Sie war ein Geschenk des Zufalls.
Bei Verhaeren waren wir in eine Diskussion mit einem Kunsthistoriker
gekommen, der klagte, die Zeit der großen Plastik und Malerei sei vorüber.
Ich widersprach heftig. Sei nicht Rodin noch unter uns, nicht geringer als
Gestalter als die Großen der Vergangenheit? Ich begann seine Werke
aufzuzählen und geriet wie immer, wenn man gegen einen Widerspruch
kämpft, in fast zornigen Schwung. Verhaeren lächelte in sich hinein.
»Jemand, der Rodin so liebt, sollte ihn eigentlich kennenlernen«, sagte er am
Ende. »Morgen bin ich in seinem Atelier. Wenn es dir recht ist, nehme ich
dich mit.«
Ob es mir recht war? Ich konnte nicht schlafen vor Freude. Aber bei Rodin
stockte mir die Rede. Ich vermochte nicht einmal das Wort an ihn zu richten
und stand zwischen den Statuen wie eine von ihnen. Sonderbarerweise schien
ihm diese meine Verlegenheit zu gefallen, denn beim Abschied lud der alte
Mann mich ein, ob ich nicht sein eigentliches Atelier in Meudon sehen wollte,
und bat mich sogar zu Tisch. Die erste Lehre war gegeben: daß die großen
Männer immer die gütigsten sind.
Die zweite war, daß sie fast immer in ihrem Leben die einfachsten sind. Bei
diesem Manne, dessen Ruhm die Welt erfüllte, dessen Werke unserer
Generation Linie um Linie gegenwärtig waren wie die nächsten Freunde, aß
man so simpel wie bei einem mittleren Bauern; ein gutes, kräftiges Fleisch,
ein paar Oliven und fülliges Obst, dazu kräftigen Landwein. Das gab mir
mehr Mut, zum Schluß sprach ich schon wieder unbefangen, als wären dieser
alte Mann und seine Frau mir seit Jahren vertraut.
Nach Tisch gingen wir hinüber in das Atelier. Es war ein mächtiger Saal,
der die wesentlichsten seiner Werke in Repliken vereinigte, dazwischen aber
standen und lagen zu Hunderten köstliche kleine Einzelstudien – eine Hand,
ein Arm, eine Pferdemähne, ein Frauenohr, meist nur in Gips geformt; ich
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Titel
- Die Welt von Gestern
- Untertitel
- Erinnerungen eines Europäers
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1942
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 320
- Schlagwörter
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286