Seite - 113 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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habe heute noch genau manche dieser von ihm nur zur eigenen Übung
gestalteten Skizzen in der Erinnerung und könnte von dieser einen Stunde
stundenlang erzählen. Schließlich führte der Meister mich zu einem Sockel,
auf dem hinter feuchten Tüchern sein letztes Werk, ein Frauenporträt,
verborgen war. Er löste mit seinen schweren, verfurchten Bauernhänden die
Tücher ab und trat zurück. Ein »admirable!« stieß ich unwillkürlich aus
gepreßter Brust und schämte mich schon dieser Banalität. Aber mit der
ruhigen Objektivität, in der kein Korn Eitelkeit zu finden gewesen wäre,
murmelte er, sein eigenes Werk betrachtend, nur zustimmend: »N’est-ce
pas?« Dann zögerte er. »Nur da bei der Schulter … Einen Augenblick!« Er
warf die Hausjacke ab, zog den weißen Kittel an, nahm einen Spachtel zur
Hand und glättete mit einem meisterlichen Strich an der Schulter die weiche,
wie lebend atmende Frauenhaut. Wieder trat er zurück. »Und dann hier«,
murmelte er. Wieder war mit einem winzigen Detail die Wirkung erhöht.
Dann sprach er nicht mehr. Er trat vor und zurück, blickte aus einem Spiegel
die Figur an, murrte und gab unverständliche Laute von sich, änderte,
korrigierte. Sein Auge, bei Tisch freundlich zerstreut, zuckte jetzt von
sonderbaren Lichtern, er schien größer und jünger geworden. Er arbeitete,
arbeitete, arbeitete mit der ganzen Leidenschaft und Kraft seines mächtigen,
schweren Körpers; jedesmal wenn er heftig vor- oder zurücktrat, krachte die
Diele. Aber er hörte es nicht. Er bemerkte es nicht, daß hinter ihm lautlos, das
Herz in der Kehle, ein junger Mann stand, selig, einem solchen einzigen
Meister bei der Arbeit zusehen zu dürfen. Er hatte mich gänzlich vergessen.
Ich war für ihn nicht da. Nur die Gestalt, das Werk war für ihn da und
dahinter unsichtbar die Vision der absoluten Vollendung.
Das ging eine Viertelstunde, eine halbe Stunde, ich weiß nicht mehr, wie
lange. Große Augenblicke sind immer jenseits der Zeit. Rodin war so vertieft,
so versunken in seine Arbeit, daß kein Donner ihn erweckt hätte. Immer
härter, fast zorniger wurden seine Bewegungen; eine Art Wildheit oder
Trunkenheit war über ihn gekommen, er arbeitete rascher und rascher. Dann
wurden die Hände zögernder. Sie schienen erkannt zu haben: es gab für sie
nichts mehr zu tun. Einmal, zweimal, dreimal trat er zurück, ohne mehr zu
ändern. Dann murmelte er etwas leise in den Bart, legte so zärtlich, wie man
einen Shawl um die Schultern einer geliebten Frau legt, die Tücher um die
Figur. Er atmete auf, tief und entspannt. Seine Gestalt schien wieder schwerer
zu werden. Das Feuer war erstorben. Dann kam das Unfaßbare für mich, die
große Lehre: er zog den Kittel aus, nahm wieder die Hausjacke auf und
wandte sich zum Gehen. Er hatte mich total vergessen in dieser Stunde der
äußersten Konzentration. Er wußte nicht mehr, daß ein junger Mensch, den er
doch selbst in das Atelier geführt, um ihm seine Werkstatt zu zeigen,
erschüttert hinter ihm gestanden hatte mit gepreßtem Atem, unbeweglich wie
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Titel
- Die Welt von Gestern
- Untertitel
- Erinnerungen eines Europäers
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1942
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 320
- Schlagwörter
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286