Seite - 115 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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vous plaît‹ zu rufen und ebenso jeder, der von außen hereingelassen wird,
seinen Namen zu nennen, so daß sich theoretisch kein Fremder nachts in die
Häuser einschleichen kann. – Um zwei Uhr morgens hatte nun in meinem
Hotel die Glocke von außen geläutet, jemand eintretend einen Namen
genannt, der dem eines Hotelbewohners ähnlich schien und einen der noch in
der Portiersloge hängenden Zimmerschlüssel abgenommen. Eigentlich wäre
es Pflicht des Cerberus gewesen, durch die Glasscheibe die Identität des
späten Besuchers zu verifizieren, aber offenbar war er zu schläfrig gewesen.
Als aber dann nach einer Stunde wiederum, nun von innen, jemand ›Cordon,
s’il vous plaît‹ gerufen habe, um das Haus zu verlassen, sei es ihm doch,
nachdem er schon die Haustür geöffnet hatte, merkwürdig vorgekommen, daß
jemand nach zwei Uhr morgens noch aus dem Hause gehe. Er sei
aufgestanden und habe auf die Gasse nachblickend festgestellt, daß jemand
mit einem Koffer das Haus verlassen habe und sei sofort in Schlafrock und
Pantoffeln dem verdächtigen Manne nachgefolgt. Sobald er aber gesehen, daß
jener sich um die Ecke in ein kleines Hotel Rue des Petits Champs begab,
habe er natürlich nicht an einen Dieb oder Einbrecher gedacht und sich
friedlich wieder ins Bett gelegt.
Aufgeregt über seinen Irrtum, wie er war, stürzte er mit mir zum nächsten
Polizeiposten. Es wurde sofort in dem Hotel in der Rue des Petits Champs
Nachfrage gehalten und festgestellt, daß sich zwar mein Koffer noch dort
befand, nicht aber der Dieb, der offenbar ausgegangen war, um seinen
Morgenkaffee in irgendeiner nachbarlichen Bar zu nehmen. Zwei Detektive
paßten nun in der Portiersloge des Hotels in der Rue des Petit Champs auf den
Bösewicht; als er arglos nach einer halben Stunde zurückkehrte, wurde er
sofort verhaftet.
Nun mußten wir beide, der Wirt und ich, uns zur Polizei begeben, um der
Amtshandlung beizuwohnen. Wir wurden in das Zimmer des Unterpräfekten
geführt, der, ein ungeheuer feister, gemütlicher, schnurrbärtiger Herr, mit
aufgeknöpftem Rock vor seinem sehr unordentlichen und mit Schriftstücken
überhäuften Schreibtisch saß. Die ganze Amtsstube roch nach Tabak, und
eine große Flasche Wein auf dem Tisch zeigte, daß der Mann keineswegs zu
den grausamen und lebensfeindlichen Dienern der heiligen Hermandad zählte.
Zuerst wurde auf seinen Befehl der Koffer hereingebracht; ich sollte
feststellen, ob Wesentliches darin fehlte. Der einzige scheinbare
Wertgegenstand war ein nach den Monaten meines Aufenthalts schon
reichlich abgeknabberter Kreditbrief auf zweitausend Franken, der aber
selbstverständlich für jeden Fremden unbrauchbar war und tatsächlich
unangetastet auf dem Grunde lag. Nachdem ein Protokoll aufgenommen, daß
ich den Koffer als mein Eigentum anerkenne und nichts aus demselben
entwendet worden sei, gab nun der Beamte Order, den Dieb hereinzuführen,
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Titel
- Die Welt von Gestern
- Untertitel
- Erinnerungen eines Europäers
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1942
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 320
- Schlagwörter
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286