Seite - 118 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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ihn nach Hause zu tragen. Aber in diesem Moment geschah etwas
Merkwürdiges. Hastig näherte sich mir der Dieb in demütiger Weise. »Oh
non, Monsieur«, sagte er. »Ich trage ihn schon zu Ihnen nach Hause.« Und so
marschierte ich, während hinter mir der dankbare Dieb den Koffer trug,
wieder die vier Straßen zu meinem Hotel zurück.
Auf diese Art schien eine ärgerlich begonnene Affäre in heiterster und
erfreulichster Weise abgeschlossen. Aber sie zeitigte in rascher Folge noch
zwei Nachspiele, denen ich aufschlußreiche Beiträge zur Kenntnis der
französischen Psyche verdanke. Als ich am nächsten Tage zu Verhaeren kam,
begrüßte er mich mit einem maliziösen Lächeln. »Du hast ja sonderbare
Abenteuer hier in Paris«, sagte er spaßend. »Vor allem habe ich gar nicht
gewußt, daß du ein so schwerreicher Bursche bist.« Ich verstand zuerst nicht,
was er meinte. Er reichte mir die Zeitung, und siehe, da stand ein ungeheurer
Bericht über den Vorfall von gestern, nur freilich, daß ich die wirklichen
Tatsachen in dieser romantischen Dichtung kaum wiedererkannte. Mit
eminenter journalistischer Kunst war geschildert, wie in einem Hotel der
Innenstadt an einem vornehmen Fremden – ich war vornehm geworden, um
interessanter zu sein – der Diebstahl eines Koffers verübt worden sei, der eine
Reihe kostbarster Wertobjekte, darunter einen Kreditbrief auf zwanzigtausend
Franken, enthalten habe – die zweitausend hatten sich über Nacht
verzehnfacht – sowie andere unersetzbare Gegenstände (die in Wahrheit
ausschließlich in Hemden und Krawatten bestanden hatten). Zunächst habe es
unmöglich geschienen, eine Spur zu finden, da der Dieb mit ungeheurem
Raffinement und anscheinend unter genauester Kenntnis der Lokalität die Tat
verübt habe. Aber der souspréfet des Arrondissements, Monsieur ›un tel‹,
habe mit seiner ›bekannten Energie‹ und seiner ›grande perspicacité‹ sofort
alle Maßnahmen getroffen. Auf seine telephonische Verständigung hin wären
innerhalb einer einzigen Stunde sämtliche Hotels und Pensionen von Paris auf
das genaueste untersucht worden, und seine Maßnahmen, mit gewohnter
Präzision ausgeführt, hätten in kürzester Frist zur Verhaftung des Übeltäters
geführt. Der Polizeipräsident habe dem ausgezeichneten Beamten für diese
hervorragende Leistung unverzüglich seine besondere Anerkennung
ausgesprochen, weil er durch seine Tatkraft und Weitsicht wieder einmal ein
leuchtendes Beispiel für die musterhalte Organisation der Pariser Polizei
gegeben. – An diesem Bericht war natürlich nicht das mindeste wahr; der
ausgezeichnete Beamte hatte sich nicht eine Minute von seinem Schreibtisch
weg bemühen müssen, wir hatten ihm den Dieb mit dem Koffer fertig ins
Haus geliefert. Aber er hatte die gute Gelegenheit benutzt, für sich persönlich
publizistisches Kapital zu schlagen.
Hatte sich derart für den Dieb sowie für die hohe Polizei die Episode
erfreulich gestaltet, so doch keineswegs für mich. Denn von dieser Stunde an
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Titel
- Die Welt von Gestern
- Untertitel
- Erinnerungen eines Europäers
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1942
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 320
- Schlagwörter
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286