Seite - 119 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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tat mein früher so jovialer Hauswirt alles, um mir den weiteren Aufenthalt im
Hotel zu verleiden. Ich kam die Treppe hinab und grüßte höflich seine Frau in
der Portiersloge; sie antwortete mir nicht und wandte das biedere
Bürgerinnenhaupt beleidigt ab. Der Valet räumte mein Zimmer nicht
mehr richtig auf, Briefe verloren sich auf rätselhafte Weise. Selbst in den
nachbarlichen Geschäften und im Bureau de Tabac, wo ich wegen meines
reichlichen Konsums an Rauchwaren sonst als rechter ›copain‹ begrüßt
wurde, begegneten mir mit einemmal frostige Gesichter. Geschlossen stand
die beleidigte kleinbürgerliche Moral nicht nur des Hauses, sondern der
ganzen Gasse, ja sogar des Arrondissements gegen mich, weil ich dem Dieb
›geholfen‹ hatte. Und mir blieb schließlich nichts anderes übrig, als mit dem
geretteten Koffer auszuziehen und das behagliche Hotel so schmählich zu
verlassen, als ob ich selbst der Verbrecher gewesen.
London wirkte nach Paris auf mich, wie wenn man an einem überheißen
Tag plötzlich in den Schatten tritt: im ersten Augenblick überläuft einen
unwillkürlich ein Frösteln, aber rasch sind Augen und Sinne eingewöhnt. Ich
hatte mir zwei bis drei Monate England von vornherein gleichsam als Pflicht
vorgesetzt – denn wie unsere Welt begreifen und in ihren Kräften bewerten,
ohne das Land zu kennen, das diese Welt seit Jahrhunderten in seinen
Schienen rollen ließ? Auch hoffte ich, meinem rostigen Englisch (das
übrigens nie wirklich fließend geworden ist) einen Schliff zuteil werden zu
lassen durch fleißige Konversation und rege Geselligkeit. Dazu kam es leider
nicht: ich hatte – wie wir Kontinentalen alle – wenig literarischen Kontakt
jenseits des Kanals, und bei allen Breakfast-Gesprächen und small talks in
unserer kleinen Pension über Hof und Rennen und Parties fühlte ich mich
jämmerlich unzuständig. Wenn sie Politik diskutierten, konnte ich nicht
folgen, weil sie von Joe sprachen, ohne daß ich wußte, daß sie Chamberlain
meinten, und ebenso die Sirs immer nur bei den Vornamen nannten; gegen
das Cockney der Kutscher wiederum war mein Ohr lange wie mit Wachs
vertaubt. So kam ich nicht so rasch vorwärts, wie ich gehofft hatte. Ein
bißchen gute Diktion versuchte ich in den Kirchen von den Predigern zu
erlernen, zwei oder drei Male kiebitzte ich bei Gerichtsverhandlungen, ich
ging in die Theater, um richtiges Englisch zu hören – aber immer mußte ich
mühsam suchen, was in Paris einem überflutend entgegenkam: Geselligkeit,
Kameradschaft und Heiterkeit. Ich fand niemanden, um die Dinge zu
diskutieren, die mir die wichtigsten waren; den Gutgesinnten unter den
Engländern erschien wiederum ich durch meine grenzenlose Gleichgültigkeit
gegen Sport, Spiel, Politik und was sie sonst beschäftigte, wahrscheinlich als
ziemlich ungehobelter und lederner Geselle. Nirgends gelang es mir, mich
einem Milieu, einem Kreis innerlich zu verbinden; so habe ich eigentlich
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Titel
- Die Welt von Gestern
- Untertitel
- Erinnerungen eines Europäers
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1942
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 320
- Schlagwörter
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286