Seite - 120 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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neun Zehntel meiner Londoner Zeit arbeitend in meinem Zimmer oder im
Britischen Museum verbracht.
Zuerst versuchte ich es freilich redlich mit dem Spazierengehen. In den
ersten acht Tagen hatte ich London durchtrabt, bis mir die Sohlen brannten.
Ich klapperte alle Sehenswürdigkeiten des Baedekers von der Madame
Tussaud bis zum Parlament mit studentischem Pflichtgefühl ab, ich lernte Ale
trinken und ersetzte die Pariser Zigarette durch die landesübliche Pfeife, ich
gab mir in hundert Einzelheiten Mühe, mich anzupassen; aber weder
gesellschaftlich noch literarisch kam ich in einen wirklichen Kontakt, und wer
England nur von außen sieht, der geht am Wesentlichen vorbei – geht vorbei
wie an den millionenreichen Kompanien in der City, von denen man von
außen nichts anderes wahrnimmt als eben das wohlgeputzte stereotype
Messingschild. In einem Klub eingeführt, wußte ich nicht, was dort tun;
schon der Anblick der tiefen Ledersessel reizte mich wie die ganze
Atmosphäre zu einer Art geistiger Schläfrigkeit, weil ich dies weise
Entspannen nicht wie die andern durch konzentrierte Tätigkeit oder Sport mir
verdient hatte. Diese Stadt schied eben energisch den Müßiggänger, den
bloßen Beobachter, sofern er nicht millionenreich das Odium zu einer hohen
und geselligen Kunst zu erheben wußte, als Fremdkörper aus, während Paris
ihn vergnüglich mitrollen ließ in seinem wärmeren Getriebe. Mein Fehler war
gewesen, das erkannte ich zu spät: ich hätte in irgendeiner Form der
Beschäftigung diese zwei Londoner Monate verbringen müssen, als Volontär
in einem Geschäft, als Sekretär in einer Zeitung, dann wäre ich wenigstens
einen Fingerbreit tief in das englische Leben eingedrungen. Als bloßer
Beobachter von außen habe ich wenig erlebt und erst viele Jahre später
während des Krieges eine Ahnung des wirklichen England gewonnen.
Von den Dichtern Englands sah ich nur Arthur Symons. Er wiederum
vermittelte mir eine Einladung zu W. B. Yeats, dessen Gedichte ich sehr
liebte, und von dem ich aus bloßer Freude einen Teil seines zarten Versdramas
›The shadow Waters‹ übersetzt hatte. Ich wußte nicht, daß es ein
Vorlesungsabend werden sollte; ein kleiner Kreis von Auserwählten war
geladen, wir saßen ziemlich gedrängt in dem nicht weiträumigen Zimmer, ein
Teil sogar auf Schemeln oder auf dem Fußboden. Endlich begann Yeats,
nachdem er neben einem schwarzen (oder schwarzüberzogenen) Stehpult
zwei armdicke, riesige Altarkerzen entzündet hatte. Alle andern Lichter im
Raume wurden gelöscht, so trat plastisch der energische Kopf mit den
schwarzen Locken aus dem Kerzenschimmer. Yeats las langsam mit einer
melodischen dunklen Stimme, ohne je ins Deklamatorische zu verfallen, jeder
Vers erhielt sein volles metallisches Gewicht. Es war schön. Es war wahrhaft
feierlich. Und das einzige, was mich störte, war die Preziosität der
Aufmachung, das schwarze, kuttenartige Gewand, das Yeats etwas
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Titel
- Die Welt von Gestern
- Untertitel
- Erinnerungen eines Europäers
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1942
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 320
- Schlagwörter
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286