Seite - 125 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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bewußt und liebevoll angeblickt – ein letzter dünner Faden, der jeden
Augenblick abreißen konnte, verband durch dies gebrechliche irdische
Gebilde die olympische Welt Weimars mit diesem zufälligen Vorstadthaus
Kochgasse 8. Ich bat um die Verstattung, Frau Demelius besuchen zu dürfen;
gerne und gütig wurde ich von der alten Dame empfangen, und in ihrer Stube
fand ich mancherlei vom Hausrat des Unsterblichen wieder, das von Goethes
Enkelin, ihrer Kindheitsfreundin, ihr geschenkt worden war: das
Leuchterpaar, das auf Goethes Tisch gestanden, und ähnliche Wahrzeichen
des Hauses auf dem Weimarer ›Frauenplan‹. Aber war sie nicht selbst das
eigentliche Wunder mit ihrer Existenz, diese alte Dame, ein
Biedermeierhäubchen über dem schon dünnen, weißen Haar, deren zerfalteter
Mund gerne erzählte, wie sie die ersten fünfzehn Jahre ihrer Jugend in dem
Hause am Frauenplan verbracht, das damals noch nicht wie heute Museum
war und das die Dinge unberührt seit der Stunde bewahrte, da der größte
deutsche Dichter sein Heim und die Welt für immer verließ? Wie immer alte
Leute, sah sie diese ihre Jugendzeit mit stärkster Gegenständlichkeit; rührend
war mir ihre Empörung, die Goethegesellschaft habe eine schwere
Indiskretion begangen, indem sie die Liebesbriefe ihrer Kindheitsfreundin
Ottilie von Goethe ›jetzt schon‹ publiziert habe – ›jetzt schon‹ – ach, sie hatte
vergessen, daß Ottilie schon ein halbes Jahrhundert tot war! Für sie war
Goethes Liebling noch da und war noch jung, für sie waren die Dinge
Wahrheit, die uns längst Vorzeit und Legende geworden! Immer fühlte ich
geisterhafte Atmosphäre in ihrer Gegenwart. Da wohnte man in diesem
steinernen Haus, sprach durchs Telephon, brannte elektrisches Licht, diktierte
Briefe in eine Schreibmaschine, und zweiundzwanzig Stufen empor, und man
war in ein anderes Jahrhundert entrückt und stand im heiligen Schatten von
Goethes Lebenswelt.
Ich bin später noch mehrmals Frauen begegnet, die mit ihrem weißen
Scheitel emporreichten in heroische und olympische Welt, Cosima Wagner,
der Tochter Liszts, hart, streng und doch großartig in ihren pathetischen
Gesten, Elisabeth Förster, Nietzsches Schwester, zierlich, klein, kokett, Olga
Monod, Alexander Herzens Tochter, die als Kind oft auf Tolstois Knien
gesessen; ich habe Georg Brandes als alten Mann erzählen hören von seinen
Begegnungen mit Walt Whitman, Flaubert und Dickens, oder Richard Strauss
schildern, wie er Richard Wagner zum ersten Male gesehen. Aber nichts hat
mich so berührt wie das Antlitz jener Greisin, der letzten unter den Lebenden,
die von Goethes Auge noch angeblickt worden ist. Und vielleicht bin ich
selbst wiederum schon der letzte, der heute sagen darf: ich habe einen
Menschen gekannt, auf dessen Haupt noch Goethes Hand einen Augenblick
zärtlich geruht.
Für die Zeit zwischen den Fahrten war nun der Rastpunkt gefunden. Doch
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Titel
- Die Welt von Gestern
- Untertitel
- Erinnerungen eines Europäers
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1942
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 320
- Schlagwörter
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286