Seite - 140 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
Bild der Seite - 140 -
Text der Seite - 140 -
Referate, studierte Lexika; selten habe ich ihn ohne ein Buch in Händen
gesehen. Als genauer Beobachter wußte er gut darzustellen; ich lernte von
ihm im Gespräch viel über das Rätsel des Ostens, und heimgekehrt, blieb ich
dann mit der Familie Haushofer in freundschaftlicher Verbindung; wir
wechselten Briefe und besuchten einander in Salzburg und München. Ein
schweres Lungenleiden, das ihn ein Jahr in Davos oder Arosa festhielt,
förderte durch die Abwesenheit vom Militär seinen Übergang in die
Wissenschaft; genesen, konnte er dann im Weltkrieg ein Kommando
übernehmen. Ich dachte bei dem Niederbruch oft mit großer Sympathie an
ihn; ich konnte mir denken, wie er, der jahrelang an dem Aufbau der
deutschen Machtposition und vielleicht auch der Kriegsmaschine in seiner
unsichtbaren Zurückgezogenheit mitgearbeitet hatte, gelitten haben muß,
Japan, wo er viele Freunde erworben hatte, unter den siegreichen Gegnern zu
sehen.
Bald erwies es sich, daß er einer der ersten war, die systematisch und
großzügig an einen Neuaufbau der deutschen Machtposition dachten. Er gab
eine Zeitschrift für Geopolitik heraus, und, wie es so oft geht, verstand ich
nicht den tieferen Sinn dieser neuen Bewegung in ihrem Beginn. Ich meinte
redlich, daß es sich nur darum handle, das Spiel der Kräfte im
Zusammenwirken der Nationen zu belauschen, und selbst das Wort vom
»Lebensraum« der Völker, das er, glaube ich, als erster prägte, verstand ich
im Sinne Spenglers nur als die relative, mit den Epochen wandelhafte
Energie, die im zeitlichen Zyklus jede Nation einmal auslöst. Auch
Haushofers Forderung, die individuellen Eigenschaften der Völker genauer zu
studieren und einen ständigen Instruktionsapparat wissenschaftlicher Natur
aufzubauen, schien mir durchaus richtig, da ich meinte, daß diese
Untersuchung ausschließlich völkerannähernden Tendenzen zu dienen hätte;
vielleicht – ich kann es nicht sagen – war auch wirklich Haushofers
ursprüngliche Absicht keineswegs eine politische. Ich las jedenfalls seine
Bücher (in denen er mich übrigens einmal zitierte) mit großem Interesse und
ohne jeden Verdacht, ich hörte von allen Objektiven seine Vorlesungen als
ungemein instruktiv rühmen, und niemand klagte ihn an, daß seine Ideen
einer neuen Macht- und Aggressionspolitik dienen sollten und nur die alten
großdeutschen Forderungen in neuer Form ideologisch zu motivieren
bestimmt seien. Eines Tages aber, als ich in München gelegentlich seinen
Namen erwähnte, sagte jemand im Ton der Selbstverständlichkeit: »Ach, der
Freund Hitlers?« Ich konnte nicht mehr erstaunt sein, als ich es war. Denn
erstens war Haushofers Frau durchaus nicht rassenrein und seine (sehr
begabten und sympathischen) Söhne vermögen den Nürnberger
Judengesetzen keineswegs standzuhalten; außerdem sah ich keine direkten
geistigen Bindungsmöglichkeiten zwischen einem hochkultivierten,
140
Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Titel
- Die Welt von Gestern
- Untertitel
- Erinnerungen eines Europäers
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1942
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 320
- Schlagwörter
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286