Seite - 148 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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gesteigert aus der kollektiven. Vielleicht haben wir, undankbar wie wir
Menschen sind, damals nicht gewußt, wie stark, wie sicher uns die Welle trug.
Aber nur wer diese Epoche des Weltvertrauens miterlebt hat, weiß, daß alles
seitdem Rückfall und Verdüsterung gewesen.
Herrlich war diese tonische Welt von Kraft, die von allen Küsten Europas
gegen unsere Herzen schlug. Aber was uns beglückte, war, ohne daß wir es
ahnten, zugleich Gefahr. Der Sturm von Stolz und Zuversicht, der damals
Europa überbrauste, trug auch Wolken mit sich. Der Aufstieg war vielleicht
zu rasch gekommen, die Staaten, die Städte zu hastig mächtig geworden, und
immer verleitet das Gefühl von Kraft Menschen wie Staaten, sie zu
gebrauchen oder zu mißbrauchen. Frankreich strotzte von Reichtum. Aber es
wollte noch mehr, wollte noch eine Kolonie, obwohl es gar keine Menschen
hatte für die alten; beinahe kam es um Marokkos willen zum Kriege. Italien
wollte die Cyrenaica, Österreich annektierte Bosnien. Serbien und Bulgarien
wiederum stießen gegen die Türkei vor, und Deutschland, vorläufig noch
ausgeschaltet, spannte schon die Pranke zum zornigen Hieb. Überall stieg das
Blut den Staaten kongestionierend zu Kopf. Aus dem fruchtbaren Willen zur
inneren Konsolidierung begann sich überall zugleich, als ob es bazillische
Ansteckung wäre, eine Gier nach Expansion zu entwickeln. Die französischen
Industriellen, die dick verdienten, hetzten gegen die deutschen, die ebenso im
Fett saßen, weil beide mehr Lieferungen von Kanonen wollten, Krupp und
Schneider-Creusot. Die Hamburger Schiffahrt mit ihren riesigen Dividenden
arbeitete gegen die von Southampton, die ungarischen Landwirte gegen die
serbischen, die einen Konzerne gegen die andern – die Konjunktur hatte sie
alle toll gemacht, hüben und drüben, nach einem wilden Mehr und Mehr.
Wenn man heute ruhig überlegend sich fragt, warum Europa 1914 in den
Krieg ging, findet man keinen einzigen Grund vernünftiger Art und nicht
einmal einen Anlaß. Es ging um keine Ideen, es ging kaum um die kleinen
Grenzbezirke; ich weiß es nicht anders zu erklären als mit diesem Überschuß
an Kraft, als tragische Folge jenes inneren Dynamismus, der sich in diesen
vierzig Jahren Frieden aufgehäuft hatte und sich gewaltsam entladen wollte.
Jeder Staat hatte plötzlich das Gefühl, stark zu sein und vergaß, daß der
andere genauso empfand, jeder wollte noch mehr und jeder etwas von dem
andern. Und das Schlimmste war, daß gerade jenes Gefühl uns betrog, das wir
am meisten liebten: unser gemeinsamer Optimismus. Denn jeder glaubte, in
letzter Minute werde der andere doch zurückschrecken; so begannen die
Diplomaten ihr Spiel des gegenseitigen Bluffens. Viermal, fünfmal, bei
Agadir, im Balkankrieg, in Albanien blieb es beim Spiel; aber die großen
Koalitionen formten sich immer enger, immer militärischer. In Deutschland
wurde eine Kriegssteuer eingeführt mitten im Frieden, in Frankreich die
Dienstzeit verlängert; schließlich mußte sich die Überkraft entladen, und die
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Titel
- Die Welt von Gestern
- Untertitel
- Erinnerungen eines Europäers
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1942
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 320
- Schlagwörter
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286