Seite - 149 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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Wetterzeichen am Balkan zeigten die Richtung, von der die Wolken sich
schon Europa näherten.
Es war noch keine Panik, aber doch eine ständige schwelende Unruhe;
immer fühlten wir ein leises Unbehagen, wenn vom Balkan her die Schüsse
knatterten. Sollte wirklich der Krieg uns überfallen, ohne daß wir es wußten,
warum und wozu? Langsam – allzu langsam, allzu zaghaft, wie wir heute
wissen! – sammelten sich die Gegenkräfte. Da war die sozialistische Partei,
Millionen von Menschen hüben und Millionen drüben, die in ihrem
Programm den Krieg verneinten, da waren die mächtigen katholischen
Gruppen unter der Führung des Papstes und einige international verquickte
Konzerne, da waren einige wenige verständige Politiker, die gegen jene
unterirdischen Treibereien sich auflehnten. Und auch wir standen in der Reihe
gegen den Krieg, die Schriftsteller, allerdings wie immer individualistisch
isoliert, statt geschlossen und entschlossen. Die Haltung der meisten
Intellektuellen war leider eine gleichgültig passive, denn dank unserem
Optimismus war das Problem des Krieges mit all seinen moralischen
Konsequenzen noch gar nicht in unseren inneren Gesichtskreis getreten – in
keiner der wesentlichen Schriften der Prominenten jener Zeit findet sich eine
einzige prinzipielle Auseinandersetzung oder leidenschaftliche Warnung. Wir
glaubten genug zu tun, wenn wir europäisch dachten und international uns
verbrüderten, wenn wir in unserer – auf das Zeitliche doch nur auf Umwegen
einwirkenden – Sphäre uns zum Ideal friedlicher Verständigung und geistiger
Verbrüderung über die Sprachen und Länder hinweg bekannten. Und gerade
die neue Generation war es, die am stärksten dieser europäischen Idee anhing.
In Paris fand ich um meinen Freund Bazalgette eine Gruppe junger Menschen
geschart, die im Gegensatz zur früheren Generation jedem engen
Nationalismus und aggressiven Imperialismus Absage geleistet hatten. Jules
Romains, der dann das große Gedicht an Europa im Kriege schrieb, Georges
Duhamel, Charles Vildrac, Durtain, René Arcos, Jean Richard Bloch,
zusammengeschlossen erst in der ›Abbaye‹, dann im ›Effort libre‹, waren
passionierte Vorkämpfer eines kommenden Europäertums und
unerschütterlich, wie es die Feuerprobe des Krieges gezeigt hat, in ihrem
Abscheu gegen jeden Militarismus – eine Jugend, wie sie tapferer, begabter,
moralisch entschlossener Frankreich nur selten gezeugt hatte. In Deutschland
war es Werfel mit seinem ›Weltfreund‹, der der Welt Verbrüderung die
stärksten lyrischen Akzente gab, René Schickele, als Elsässer schicksalhaft
zwischen die beiden Nationen gestellt, arbeitete leidenschaftlich für eine
Verständigung, von Italien grüßte uns G. A. Borgese als Kamerad, aus den
skandinavischen, den slawischen Ländern kam Ermutigung. »Kommt doch
einmal zu uns!« schrieb mir ein großer russischer Schriftsteller. »Zeigt den
Panslawisten, die uns in den Krieg hetzen wollen, daß Ihr in Österreich ihn
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Titel
- Die Welt von Gestern
- Untertitel
- Erinnerungen eines Europäers
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1942
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 320
- Schlagwörter
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286