Web-Books
im Austria-Forum
Austria-Forum
Web-Books
Biographien
Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
Seite - 150 -
  • Benutzer
  • Version
    • Vollversion
    • Textversion
  • Sprache
    • Deutsch
    • English - Englisch

Seite - 150 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers

Bild der Seite - 150 -

Bild der Seite - 150 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers

Text der Seite - 150 -

nicht wollt.« Ach, wir liebten alle unsere Zeit, die uns auf ihren Flügeln trug, wir liebten Europa! Aber dieser vertrauensselige Glaube an die Vernunft, daß sie den Irrwitz in letzter Stunde verhindern würde, war zugleich unsere einzige Schuld. Gewiß, wir haben die Zeichen an der Wand nicht mit genug Mißtrauen betrachtet, aber ist es nicht Sinn einer richtigen Jugend, nicht mißtrauisch, sondern gläubig zu sein? Wir vertrauten auf Jaurès, auf die sozialistische Internationale, wir glaubten, die Eisenbahner würden eher die Schienen sprengen als ihre Kameraden als Schlachtvieh an die Front verladen lassen, wir zählten auf die Frauen, die ihre Kinder, ihre Gatten dem Moloch verweigern würden, wir waren überzeugt, daß die geistige, die moralische Kraft Europas sich triumphierend bekunden würde im letzten kritischen Augenblick. Unser gemeinsamer Idealismus, unser im Fortschritt bedingter Optimismus ließ uns die gemeinsame Gefahr verkennen und verachten. Und dann: was uns fehlte, war ein Organisator, der die in uns latenten Kräfte zielbewußt zusammenfaßte. Wir hatten nur einen einzigen Mahner unter uns, einen einzigen weit vorausblickenden Erkenner; doch das Merkwürdigste war, daß er mitten unter uns lebte und wir von ihm lange nichts wußten, von diesem uns vom Schicksal als Führer eingesetzten Mann. Für mich war es einer der entscheidenden Glücksfälle, daß ich ihn mir noch in letzter Stunde entdeckte, und es war schwer, ihn zu entdecken, denn er lebte inmitten von Paris abseits von der ›foire sur la place‹. Wenn jemand einmal eine redliche Geschichte der französischen Literatur im zwanzigsten Jahrhundert zu schreiben unternimmt, wird er das erstaunliche Phänomen nicht außer acht lassen dürfen, daß man allen denkbaren Dichtern und Namen damals in den Pariser Zeitungen lobhudelte, gerade aber die der drei Wesentlichsten nicht kannte oder in falschem Zusammenhang nannte. Von 1900 bis 1914 habe ich den Namen Paul Valérys als eines Dichters nie im ›Figaro‹, nie im ›Matin‹ erwähnt gelesen, Marcel Proust galt als Geck der Salons, Romain Rolland als kenntnisreicher Musikgelehrter; sie waren fast fünfzig Jahre alt, ehe der erste schüchterne Strahl von Ruhm ihren Namen erreichte, und ihr großes Werk war im Dunkel getan inmitten der neugierigsten, geistigsten Stadt der Welt. Daß ich Romain Rolland mir rechtzeitig entdeckte, war ein Zufall. Eine russische Bildhauerin in Florenz hatte mich zum Tee eingeladen, um mir ihre Arbeiten zu zeigen und auch, um eine Skizze von mir zu versuchen. Ich erschien pünktlich um vier Uhr, vergessend, daß sie eine Russin und somit jenseits von Zeit und Pünktlichkeit. Eine alte Babuschka, die, wie ich hörte, schon Amme ihrer Mutter gewesen, führte mich in das Atelier, an dem das Malerischste die Unordnung war, und bat mich, zu warten. Im ganzen standen 150
zurück zum  Buch Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers"
Die Welt von Gestern Erinnerungen eines Europäers
Titel
Die Welt von Gestern
Untertitel
Erinnerungen eines Europäers
Autor
Stefan Zweig
Datum
1942
Sprache
deutsch
Lizenz
PD
Abmessungen
21.0 x 29.7 cm
Seiten
320
Schlagwörter
Biographie, Litertaur, Schriftsteller
Kategorie
Biographien

Inhaltsverzeichnis

  1. Vorwort 5
  2. Die Welt der Sicherheit 10
  3. Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
  4. Eros Matutinus 56
  5. Universitas vitae 74
  6. Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
  7. Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
  8. Über Europa hinaus 135
  9. Glanz und Schatten über Europa 145
  10. Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
  11. Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
  12. Im Herzen Europas 189
  13. Heimkehr nach Österreich 208
  14. Wieder in der Welt 224
  15. Sonnenuntergang 240
  16. Incipit Hitler 263
  17. Die Agonie des Friedens 286
Web-Books
Bibliothek
Datenschutz
Impressum
Austria-Forum
Austria-Forum
Web-Books
Die Welt von Gestern