Seite - 154 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
Bild der Seite - 154 -
Text der Seite - 154 -
können. Besonders wir in Österreich spürten, daß wir im Kern der
Unruhezone lagen. 1910 hatte Kaiser Franz Joseph sein achtzigstes Jahr
überschritten. Lange konnte es mit dem schon zum Symbol gewordenen
Greise nicht mehr dauern, und ein mystisches Gefühl begann sich
Stimmungshaft zu verbreiten, nach dem Hingang seiner Person werde der
Auflösungsprozeß der tausendjährigen Monarchie nicht mehr aufzuhalten
sein. Innen wuchs der Druck der Nationalitäten gegeneinander, außen
warteten Italien, Serbien, Rumänien und in gewissem Sinne sogar
Deutschland, sich das Reich aufzuteilen. Der Balkankrieg, wo Krupp und
Schneider-Creusot ihre Kanonen gegeneinander an fremdem
›Menschenmaterial‹ ausprobierten, wie späterhin die Deutschen und Italiener
ihre Flugzeuge im spanischen Bürgerkrieg, zog uns immer mehr in die
kataraktische Strömung. Immer schreckte man auf, aber um immer wieder
aufzuatmen: ›Diesmal noch nicht. Und hoffentlich nie!‹
Nun ist es erfahrungsgemäß tausendmal leichter, die Fakten einer Zeit zu
rekonstruieren als ihre seelische Atmosphäre. Sie findet ihren Niederschlag
nicht in den offiziellen Geschehnissen, sondern am ehesten in kleinen,
persönlichen Episoden, wie ich sie hier einschalten möchte. Ich habe, ehrlich
gesagt, damals nicht an den Krieg geglaubt. Aber zweimal habe ich
gewissermaßen wach von ihm geträumt und bin mit erschrockener Seele
aufgefahren. Das erste Mal geschah es bei der ›Affäre Redl‹, die wie alle
wichtigen Hintergrundepisoden der Geschichte wenig bekannt ist.
Diesen Oberst Redl, den Helden eines der kompliziertesten
Spionagedramen, hatte ich persönlich nur flüchtig gekannt. Er wohnte eine
Gasse weit im selben Bezirk, einmal hatte mich im Café, wo der gemütlich
aussehende, genießerische Herr seine Zigarre rauchte, mein Freund, der
Staatsanwalt T., ihm vorgestellt; seitdem grüßten wir einander. Aber später
erst entdeckte ich, wie sehr wir mitten im Leben vom Geheimnis umstellt
sind, und wie wenig wir von Menschen im nächsten Atemraum wissen.
Dieser äußerlich wie ein guter österreichischer Durchschnittsoffizier
aussehende Oberst war der Vertrauensmann des Thronfolgers; ihm war das
wichtige Ressort anvertraut, den Secret Service der Armee zu leiten und den
der gegnerischen zu konterkarieren. Nun war durchgesickert, daß 1912
während der Krise des Balkankrieges, da Rußland und Österreich
gegeneinander mobilisierten, das allerwichtigste Geheimstück der
österreichischen Armee, der ›Aufmarschplan‹, nach Rußland verkauft worden
war, was im Kriegsfall eine beispiellose Katastrophe hätte verursachen
müssen, denn die Russen kannten damit im voraus Zug um Zug jede taktische
Bewegung der österreichischen Angriffsarmee. Die Panik in den Kreisen des
154
Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Titel
- Die Welt von Gestern
- Untertitel
- Erinnerungen eines Europäers
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1942
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 320
- Schlagwörter
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286