Seite - 156 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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Spionagechef der österreichischen Armee, war gleichzeitig gekaufter Spion
des russischen Generalstabs. Er hatte nicht nur die Geheimnisse und
Aufmarschpläne verkauft, sondern nun wurde schlagartig verständlich, wieso
im letzten Jahr alle von ihm gesandten österreichischen Spione in Rußland
regelmäßig verhaftet und verurteilt worden waren. Ein wildes
Herumtelephonieren begann, bis man schließlich Konrad von Hötzendorf, den
Chef des österreichischen Generalstabs, erreichte. Ein Augenzeuge dieser
Szene hat mir erzählt, daß er nach den ersten Worten weiß wurde wie ein
Tuch. Das Telephon lief weiter in die Hofburg, eine Beratung folgte der
andern. Was nun beginnen? Die Polizei ihrerseits hatte inzwischen Vorsorge
getroffen, daß Oberst Redl nicht entkommen konnte. Als er das Hotel
Klomser wieder verlassen wollte und nur noch dem Portier einen Auftrag gab,
trat unauffällig ein Detektiv an ihn heran, hielt ihm das Taschenmesser hin
und fragte höflich: »Haben Herr Oberst nicht dieses Taschenmesser im Fiaker
vergessen?« In dieser Sekunde wußte Redl, daß er verloren war. Wo er
hintrat, sah er die wohlbekannten Gesichter der Geheimpolizisten, die ihn
überwachten, und als er zurückkam ins Hotel, folgten ihm zwei Offiziere in
sein Zimmer und legten ihm einen Revolver hin. Denn inzwischen war in der
Hofburg beschlossen worden, diese für die österreichische Armee so
schmachvolle Affäre in unauffälliger Weise zu beenden. Bis zwei Uhr nachts
patrouillierten die beiden Offiziere vor Redls Zimmer im Hotel Klomser.
Dann erst fiel innen der Revolverschuß.
Am nächsten Tage erschien, in den Abendblättern ein kurzer Nekrolog für
den wohlverdienten Offizier Oberst Redl, der plötzlich gestorben sei. Aber zu
viele Personen waren in die Verfolgung verstrickt gewesen, als daß man das
Geheimnis hätte wahren können. Nach und nach erfuhr man überdies
Einzelheiten, die psychologisch viel aufklärten. Oberst Redl war, ohne daß
einer seiner Vorgesetzten oder Kameraden es wußte, homosexuell veranlagt
gewesen und seit Jahren in den Händen von Erpressern, die ihn schließlich zu
diesem verzweifelten Ausfluchtsmittel getrieben hatten. Ein Schauer des
Entsetzens ging durch die Armee. Alle wußten, daß im Kriegsfall dieser eine
Mensch das Leben von Hunderttausenden gekostet hätte und die Monarchie
durch ihn an den Rand des Abgrunds geraten wäre; erst in dieser Stunde
begriffen wir in Österreich, wie atemnahe wir im vergangenen Jahr dem
Weltkrieg schon gewesen.
Das war das erste Mal, daß ich das Grauen an der Kehle spürte. Zufällig
traf ich am nächsten Tage Berta von Suttner, die großartige und großmütige
Kassandra unserer Zeit. Aristokratin aus einer der ersten Familien, hatte sie in
ihrer frühesten Jugend nahe ihrem böhmischen Stammschloß die Greuel des
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Titel
- Die Welt von Gestern
- Untertitel
- Erinnerungen eines Europäers
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1942
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 320
- Schlagwörter
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286